CHARLES LEWINSKI

Beklemmendes Endspiel im Schnee

In „Kastelau“ erzählt der Schweizer Erfolgsschriftsteller die fiktive Geschichte vom Drehen eines fiktiven Films im untergehenden Nazideutschland. Sein Roman ist ein hochspannendes, sprachmächtiges Kammerspiel, raffiniert konstruiert nach historischen Fakten.

Im Kriegswinter 1944 dreht eine Berliner Equipe, eingeschneit im bayrischen Bergdorf Kastelau, den Film „Lied der Freiheit“. Sie ist nach einem Bombenangriff auf ihr Autokonvoi stark reduziert und das Material geht ihr bald aus, was aber keine Rolle spielt. Denn die Mehrzahl der Crew nutzt ihr als kriegswichtige Propaganda deklariertes, aber illusorisches Projekt nur als Vorwand, um sich aus der untergehenden Hauptstadt zu retten.
Ueberlebenswichtig ist das vor allem für den von den Nazis verfolgten Drehbuchautor Werner Wagenbach. Als sich während der bewusst hinausgezögerten, fiktiven Filmerei ein Sieg der Allierten abzeichnet, will ihn der ehrgeizige Hauptdarsteller Walter Arnold alias Arnie Walton zwingen, den Film zum Widerstandsmanifest umzuschreiben. Und beseitigt ihn nach dessen Weigerung in einem vorgetäuschten Schiessunfall.

Erinnertes Nazideutschland
Der Zürcher Charles Lewinsky (1946), ursprünglich mit TV-Sitcoms und Schlagertexter, dann mit seinen Romanen und Erzählungen sehr erfolgreich, stammt aus einer jüdischen Familie. Deshalb wohl lässt ihn Nazideutschland als Thema nicht los. In seinem vorangegangenen grossen Roman „Merron“ erzählt er entlang recherchierter Fakten das tragische Schicksal eines seinerzeit berühmten jüdischen Schauspielers, der gezwungen wurde, einen Propagandafilm über das KZ Theresienstadt zu produzieren.
Auch „Kastelau“ wirkt wie ein Dokumentarroman, kunstvoll zusammengefügt aus Manuskriptfragmenten eines amerikanischen Doktoranden, Wikipedia-Einträgen und Filmbibliografien sowie Notizen, Briefen oder Interviews beteiligter Personen.

Fiktiv und real
Doch im Internet findet man kein Dorf namens Kastelau und unter dem Stichwort „Lied der Freiheit“ bloss einen Streifen von Carlos Saura, keinen von dem im Roman Reinhold Servatius genannten Regisseur, der ebenfalls unbekannt ist. Einen Schauspieler namens Walter Arnold gibt es zwar, aber quicklebendig in Luzern, und sein Berufskollege Arnie Walton ist gebürtiger Amerikaner. Auch einen Schriftsteller Werner Wagenbach sucht man vergeblich.
Charles Lewinskys bestätigt: Seine täuschend historisch wirkende Geschichte ist erfunden, die Inspiration dazu aber real: Der deutsche Schriftsteller Erich Kästner berichtet in seinem unter dem Titel „Nota bene 1945“ veröffentlichten Tagebuch, wie er als Drehbuchautor an einem fiktiven Film in den österreichischen Alpen mitwirkte, um den Nazis zu entgehen.

Lebendige Figuren
Für das Porträt des Autors Werner Wagenbach konnte Lewinsky aus seiner eigenen professionellen Erfahrung schöpfen. Doch auch den zahlreichen andern Figuren bis in die kleinsten Nebenrollen verleiht er überzeugendes Leben. Einfühlen kann er sich sogar in den fiesen Karrieristen Walter Arnold, (später als Arnie Walton in den USA erfolgreich), der den desertierten Sohn der Gasthofwirtin verrät und vor einem Mord nicht zurückschreckt. Und die Interviews mit der Schauspielerin Tiziana, die als alte Frau mit ihren Erinnerungen herausrückt, sind Glanzstücke der Rollenprosa. Atemberaubend steigert der gewiefte Drehbuchschreiber die bedrohlichen Spannungen in der vom Schnee gefangenen und vom Kriegsgeschehen existentiell bedrohten Menschengruppe. Sein Roman wäre eine fixfertige Filmvorlage – wenn denn die Erinnerung an diese weit zurückliegende Schreckenszeit noch gefragt ist.

Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in der Berner Zeitung vom 21.8.2014)