KARL OVE KNAUSGÅRD

Die Sensation des alltäglichen Lebens

Die eigene Biografie unter der Lupe: Auf 3000 Seiten erzählt der 42-jährige norwegische Autor Karl Ove Knausgård detailgenau sein bisheriges Leben – und landet damit eine literarische Sensation. Wie ist das möglich? Antworten finden sich im ersten auf Deutsch übersetzten Band «Sterben».

Der Mammutroman von Karl Ove Knausgård (1968 in Norwegen geboren, heute im schwedischen Malmö zu Hause) ist wie eine literarische Version der im Fernsehen so beliebten Reality-Shows: ein Versuch, die alltägliche Wirklichkeit des Lebens darzustellen. Vier der sechs geplanten Bände sind bisher erschienen; auf Deutsch liegt jetzt der erste Teil vor mit dem Titel «Sterben». Das Original heisst «Min kamp», hat aber nichts zu tun mit Hitlers berüchtigter Schrift. Gemeint ist der lebenslange Kampf des Icherzählers gegen seinen übermächtigen Vater.

Erstickender Vater
Als Dreissigjähriger steht er vor dessen Leiche: «Er lag auf einem Tisch mitten im Raum, der Himmel war bewölkt, das Licht im Zimmer war schummrig, auf dem Rasen vor dem Fenster fuhr ein Mäher langsam im Kreis. Der Gedanke, dass ich dieses Gesicht zum ersten Mal ungehindert studieren konnte, war beinahe unerträglich, erschien mir wie ein Übergriff. Seine Züge waren mir vertraut, denn obwohl ich meinen Vater in den letzten Jahren nur selten gesehen hatte, verging kaum eine Nacht, in der ich nicht von ihm träumte.»

Im Holzmaser des Zimmerbodens sieht er die Form eines menschlichen Gesichts und wird dadurch überschwemmt von Kindheitserinnerungen: Als Achtjähriger meinte er im Fernsehbild eines Schiffsunglücks ein Gesicht im Meer zu sehen und wurde dafür von seinem Vater wie üblich verspottet. Vergeblich ringt er Jahre lang um die Zuneigung oder auch nur das Interesse des harten, verschlossenen Mannes, neben dem die schwache Mutter wie verschwindet.

Ungewöhnliche Präzision
Der Tod des Tyrannen, der einsam seinem Suff erlegen ist, stürzt den Sohn in ein Gefühlschaos: Neben Erlösung und Genugtuung empfindet er tiefe Trauer über die verlorene Chance einer Versöhnung. Doch zugleich würgt ihn die Angst, der Tote könnte zurückkommen. Wie zur Geisteraustreibung putzt er zusammen mit seinem Bruder das verwahrloste Haus und vergegenwärtigt sich dabei in Bruchstücken sein bisheriges Leben.

Dabei ist ihm kein Detail unwichtig. So beobachtet er etwa, wie die Salzkörner auf seinem Frühstücksei schmelzen, oder er hält minutiös alle Sinneseindrücke eines Sommergewitters fest. Ebenso präzise notiert er seine Gefühle und Gedanken: Er hinterfragt die eigene fehlende Wärme für seine drei Kinder, die ihn beim Schreiben stören. Oder er grübelt über die Möglichkeiten der Sprache, über die Wirkung von Kunstwerken.

Protest und Grosserfolg
Und wie ein Leitmotiv durchzieht der Tod das mit unauffälliger Raffinesse komponierte Buch. Sprachlich wirkt es schlicht, in der deutschen Übersetzung mitunter sogar hölzern. Seine wortreiche Genauigkeit wird einem oft etwas lang – und erzeugt doch einen seltsamen Sog. Denn man identifiziert sich zwingend mit dem Erzähler, der sich so rückhaltlos preisgibt. Keine Schonung erfahren auch die Menschen in seinem Leben: Angehörige, Freunde, Bekannte oder Lehrer porträtiert er erkennbar mit all ihren Schwächen. Vierzehn Betroffene haben sich denn auch in einem offenen Brief gewehrt gegen «diese Judasliteratur voller Lügen und Beleidigungen».

Die Fachkritik hingegen bejubelte den kühnen Versuch, das eigene Leben eins zu eins nachzubilden. Für den noch nicht einmal fertig gestellten ersten Band erhielt Knausgård den «Brageprisen», Norwegens höchste literarische Auszeichnung. Zugleich wurde aber die problematische Vermischung von Fakt und Fiktion heftig diskutiert. Die in den Medien breit ausgetragene Kontroverse hat wohl mit bewirkt, dass sich das sperrige Werk monatelang auf der Bestsellerliste hielt.

Wie viele der über 200 000 gekauften Exemplare allerdings zu Ende gelesen wurden, steht nirgends vermerkt. Karl Ove Knausgård mag das wenig kümmern: Er hat endlich die Anerkennung gefunden, die er sich von seinem Vater vergeblich erhoffte. Nach dessen Tod nimmt der Schriftsteller das publikationsreife Manuskript seines Romans in die Hand und denkt: «Ich hatte dieses Buch für Vater geschrieben. Ich wollte, dass er mich sah. Dass er stolz auf mich wäre. Er hat nicht einmal gewusst, dass ich ein Buch veröffentlichen würde.»

Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in der Berner Zeitung vom 19.5.2011)