LETA SEMADENI

Ein Roman wie ein Gedicht

Bildstark erzählt die Engadiner Lyrikerin in ihrem schmalen Roman „Tamangur“ vom dörflichen Alltag einer Grossmutter und ihres Enkelkindes: ein kleines Meisterwerk.

Tamangur ist ein wildwüchsiger Arvenwald im Unterengadin. Tamangur ist aber auch der Ort, wo sich der Grossvater aufhält mit allen andern Jägern, seit sein Stuhl am Küchentisch für immer leer bleibt. Das hat die Grossmutter dem Kind erzählt, mit dem sie zusammenlebt im Dorf voller Schatten am reissenden Fluss.

„Es ist nur ein Fliegendreck auf der Landkarte“ sagt die alte Frau, die früher in Hotels auf der ganzen Welt gearbeitet hat. Doch das Kind erlebt den kleinen Ort als Abenteuer: Da gibt es eine herrenlose Geiss, einen furchteinflössenden Kaminfeger und Elsa, die mit dem unsichtbaren Elvis Presley zusammenlebt.

Die Grossmutter, die für die Artenvielfalt ist, hat die seltsame Frau in ihr grosses Herz geschlossen. Darin ist auch Platz für eine plötzliche Wut und die brennende Trauer um ihren vor einem Jahr gestorbenen Mann, dessen Füsse so weich waren wie sein Gemüt. „Die Erinnerung liegt überall herum wie ein schlafendes Tier, das einem den Weg versperrt. Und an manchen Abenden schmeckt alles nach Heimweh.“

Schlicht und kunstvoll
Das Enkelkind erlebt die temperamentvolle alte Frau bald als Engel, bald als Teufel. Doch es findet sichere Zuflucht an ihrem üppigen Busen, wenn nachts die bösen Träume kommen. Darin treibt sein kleiner Bruder den Fluss hinunter ins Meer; dabei hat es ihn doch nur kurz losgelassen, um den Froschkönig zu fangen. Seither erträgt seine Mutter seinen Anblick nicht mehr. So halten das (namen- und alterslose) Kind und seine Grossmutter sich gegenseitig am Leben.

Immer wieder dringt Tragik durch die Ritzen der Idylle, deren Farben vor dem schwarzen Hintergrund umso intensiver leuchten. Denn Leta Semadeni (1944), die in Deutsch und Romanisch schreibt,  ist in erster Linie eine preisgekrönte Lyrikerin. Ihr schmaler erster Roman liest sich denn auch wie ein Gedicht, in dem keines der Alltagsworte zufällig gesetzt ist. Das wirkt schlicht und leicht zugänglich und ist doch hinreissend kunstvoll.

Rotpunkt Verlag, 144 S.

Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in der Berner Zeitung vom 20.7.2015)