DONNA TARTT

Eintauchen in andere Leben

„Der Distelfink“ ist ein Fest für alle, denen ein gutes Buch nicht zu dick sein kann. Nicht zufällig hat der tausendseitige Roman der US-Autorin den diesjährigen Pulitzerpreis erhalten: Er bietet spannende Unterhaltung auf hohem Niveau, zeigt lebendige Figuren in atmosphärischen Milieus und glänzt mit brillanter Sprache.

Wenn man Romane als Türen nutzt in andere Welten weit weg vom Alltag, dann können sie nicht dick genug sein: Damit sie einen möglichst lange eintauchen lassen in fremde Schicksale und dabei Freundschaft schliessen mit fiktiven Menschen, die man auf der letzten Seite bedauernd wieder verlässt.

Vielfältige Geschichte
Ein solches Buch ist Donna Tartts „Der Distelfink“. Dieses Singvögelchen hat 1654 der Rembrandtschüler Carel Fabritius porträtiert in meisterhafter Naturnähe. Als der dreizehnjährige Theo Decker im New Yorker Metropolitan Museum davor steht, explodiert eine Terroristenbombe und tötet seine Mutter. Benommen nimmt er das Bildchen an sich und flieht.

Wie ein Talisman begleitet es ihn durchs nächste Jahrzehnt seines prekären Lebens: Erst wird er von der reichen Familie eines Klassenkameraden aufgenommen, dann muss er zu seinem nichtsnutzigen Vater nach Las Vegas. Aus seiner Einsamkeit rettet ihn sein zwielichtiger Freund Boris, der ihn saufen und kiffen lehrt. Zurück in New York, wird er aufgenommen von einem väterlichen Möbelrestaurator, als dessen Partner er aus Geldnot betrügerische Antiquitätengeschäfte macht.

Er kann sich nicht zur Rückgabe des wertvollen kleinen Kunstwerks durchringen, tröstet sich immer wieder mit dem geheimen Anblick.. Und gerät in Teufelsküche, als es von Boris geklaut und an die Mafia verschoben wird. Wie die beiden dann unter Lebensgefahr ein Happyend bewerkstelligen, sei nicht verraten.

Das ist nur der Hauptstrang der verschlungenen Geschichte, die Entwicklungsroman, Kunstkrimi und Milieustudie vereint. Eine wichtige Rolle für den Heranwachsenden spielen auch zwei Frauen: Die eine liebt er hoffnungslos, seit er sie am Tag des Attentats als Mädchen gesehen hat. Und mit der andern verlobt er sich, ohne sie wirklich zu lieben.

Präzise Lebendigkeit
Jede Figur bis zur kleinsten Nebencharge erscheint in glaubhafter Lebendigkeit, stimmig bis in die Nuancen ihrer Sprache. Dieselbe Präzision kennzeichnet die Schilderung der mannigfachen Schauplätze: das wohlhabende und das kleinkriminelle New York, die trostlose Siedlung am Rand von Las Vegas, das winterliche Amsterdam. Wer nur auf rasante Handlung aus ist, mag dies als Längen empfinden, andere finden gerade darin den Hauptreiz des Romans.

Ein Jahrzehnt lang hat Donna Tartt daran gearbeitet, wie auch an seinen zwei erfolgreichen Vorgängern („Die geheime Gesellschaft“ 1992 und „Der kleine Freund“ 2002). „Ein Buch schreiben ist wie eine Seereise, auf der man nicht weiss, wann man wieder Land sehen wird.“, sagt die 1963 im Süden der USA geborene, jetzt in Manhattan lebende Autorin in einem Interview. Sie ist ständig am Schreiben, füllt dicke Notizbücher mit ihren Beobachtungen und Gedanken.

Zu ihrem neusten Roman meint sie: „Ich hatte Lust, etwas von der Macht der Kunst erzählen und vom Überlebenswert der Freundschaft.“ Vor allem wollte sie das lustvollste Erlebnis ihrer Kindheit reproduzieren: „Ein Buch, in dem man sich so verliert, dass man nicht hört, wenn die Mutter zum Essen ruft

Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in der Berner Zeitung vom 16.6.2014   )