GEORGES SIMENON

Krimiklassiker in neuem Glanz

Die immer noch beliebten Bücher von George Simenon werden jetzt vom Schweizer Kampa Verlag neu heraus gegeben. Im Simenon-Archiv in Lausanne haben wir uns auf die Spuren des Schöpfers von Kommissar Maigret begeben.

Georges Simenon (1903-89) ist einer der meistverkauften und -verfilmten Autoren. Seine Romane, nicht nur die Krimis um Kommissar Maigret, werden noch immer gerne gelesen und seine besten Werke gelten als Weltliteratur. Lange hat der in Amerika gelebt, doch Ende der 50er-Jahre kehrte er mit seiner Familie nach Europa zurück und verbrachte seine letzten dreissig Lebensjahre bei oder in Lausanne. Im Schloss Echandens, im für ihn gebauten Ranchhaus in Epalinges, in Lausanne im kleinen «Maison Rose» und schliesslich im Hôtel Beau-Rivage.

Engagierter Sohn

In Lausanne lebt heute immer noch sein bald siebzigjähriger Sohn John, der seinem feingliedrigen Vater gleicht und sich liebevoll an ihn erinnert: «Er nahm sich viel Zeit für mich, ohne mich mit seinen Erwartungen zu belasten. Obwohl er ein Workaholic war, habe ich ihn kaum je beim Schreiben gesehen. Er arbeitete von fünf Uhr morgens bis zum Familienmittagessen und hörte auf, wenn ich nachmittags aus der Schule kam.»

Diese bewundernde Zuneigung befeuert das grosse Engagement von John Simenon für den Nachlass seines berühmten Vaters. Im Untergeschoss seines Hauses in einem Lausanner Wohnquartier hat er ein Archiv eingerichtet für die wichtigsten Bücher, Dokumente und Briefe, Film- und Tonaufnahmen, das er laufend erweitert und digitalisiert. Zehntausend weitere Titel lagern in Freiburg.

     Eine perfekt englisch oder französische Führung im Hauptarchiv durch den intimsten Kenner Simenons ist ein Erlebnis: Er erzählt bezeichnende Anekdoten und zeigt frühe Ausgaben der bekanntesten Werke mit fotografierten Titelbildern, die der Autor erfunden und dafür Berühmtheiten wie Man Ray gewonnen hat. Und berichtet von Plänen für ein Simenon-Zentrum.

    Dabei habe ihn sein Vater gar nicht als Nachlassverwalter bestimmt: «Vor seinem Tod hat er alles vertraglich geregelt für zehn Jahre und seine fünf Assistenten mit der Durchführung betraut.» Nach deren Tod sei er in die Lücke gesprungen. «Mein Vater wäre sehr erstaunt, dass ihn sein Ruhm so lange überdauert!»

Bekannt sind vor allem die 75 Romane um Jules Maigret. Viele davon wurden verfilmt mit dreissig verschiedenen Hauptdarstellern, unvergesslich vor allem Jean Gabin. Neben dem Bucherfolg machten die Filmrechte den gewieften Selbstvermarkter zum reichen Mann. Doch die Literaturkritik unterschätzte den Bestsellerautor lange als routinierten Vielschreiber. Verwehrt blieb ihm auch der Nobelpreis, den er schon in jungen Jahren für sich prophezeit hatte. Ein Trost mag ihm das Lob grosser Berufskollegen gewesen sein und die Publikation seiner Spitzenwerke in der prestigiösen «Edition de la Pleiade». 

Mehr als Kriminalfälle

Auch wer Krimis eigentlich nicht mag, liest Georges Simenons Romane um Kommissar Maigret mit Genuss und Gewinn: Weil sie nicht bloss von der Aufdeckung eines Verbrechens erzählen, sondern vor allem eine dichte Atmosphäre schaffen mit lebendigen Figuren. Unauffällige Bürger verstricken sich aus Gier oder Eifersucht zufällig in ein böses Netz und offenbaren dabei ihre dunklen Eigenschaften. «Ich reisse den Menschen ihre Maske herunter», sagte der Autor. Er lässt seinen wortkargen Ermittler knifflige Fälle lösen, indem er die Beteiligten analysiert, wobei die Opfer oft mehr interessieren als die Täter.

      Noch raffinierter ist die echte Spannung in den «romans durs», die ohne kriminelle Handlung ganz von der Psychologie leben. Scharfsichtig beobachtet der Autor wie ein Voyeur die Gesellschaft von ihrer Rückseite, aus der Perspektive von Hinterhöfen, Bahngeleisen oder Kanalufern. Die Schauplätze sind nebelverhangene nordfranzösische Provinzstädte, eine sonnenverbrannte Mittelmeerinsel, die Strassen von Paris oder New York, die südwest-amerikanische Prärie, Istanbul, Russland, Afrika, Lateinamerika…

Ein unstetes Leben

Simenon kannte die Tatorte aus eigener Erfahrung:  33 mal hat er den Wohnsitz gewechselt, seit er mit neunzehn aus seiner Heimatstadt Liège nach Paris zog. Dort setzte er seine vor drei Jahren als Journalist begonnene Schriftstellerei fort mit hunderten  Stories und Groschenromanen, veröffentlicht unter diversen Pseudonymen: «Zehn Jahre lang übte ich das Schreibhandwerk und die Fähigkeit, in die Haut anderer Leute zu schlüpfen», erinnerte er sich.

    Wie ihm die berühmte Autorin Colette geraten hatte, schrieb er ein schnörkellos klares Französisch. Das entsprach auch der Geschwindigkeit seiner Produktion: Durchschnittlich elf Tage brauchte er für einen kurzen Roman. Nach der Pulp Fiction veröffentlichte er unter seinem Namen 192 Romane und rund 150 Erzählungen, die sich über 850 Millionen mal verkauften in rund fünfzig Sprachen.

Erfolg macht attraktiv. Das mag beigetragen haben zu seinem Erfolg bei den Frauen, denen der physisch wenig imposante Mann ständig nachjagte. Er habe mit zehntausend geschlafen, pflegte er anzugeben, darunter Joséphine Baker. Was seine zweite Gattin auf immer noch stattliche 1’200 korrigierte. Mit ihr und seiner ersten Ehefrau sowie der geliebten Köchin Boule führte er eine Weile eine «ménage à quatre». Psychologen mögen sein unstillbares Verlangen nach weiblicher Zuneigung zurückführen auf die Ablehnung durch seine Mutter, die er in «Lettre à ma mère» berührend geschildert hat. Auch seine zweite Ehe war schwierig, geprägt von Alkoholmissbrauch und Gewalt; doch schrieb er seiner kranken Frau jeden Tag drei Briefe.

Ein ambitiöses Verlagsprojekt

Georges Simenon ist immer noch gefragt und wird immer noch gern gelesen. Das belegen die steigenden Antiquariatspreise für seine vergriffenen Romane oder der Grossandrang zur ETH-Veranstaltungsreihe seines Biografen. Doch manche Bücher sind vergriffen oder nicht auf Deutsch übersetzt. Deshalb hat sein Sohn John Simenon die Rechte an einen schweizerischen und einen deutschen Verlag übertragen, die gemeinsam viele bekannte und unbekannte Bücher des belgischen Klassikers in überarbeiteter oder neuer Übersetzung herausbringen wollen.

2016 war der Vertrag mit Diogenes nach vierzig Jahren ausgelaufen und Kampa, der John Simenon von seiner langen Tätigkeit bei Diogenes gut kannte, erhielt die Rechte für eine deutsche Neuausgabe. «Allein wäre das aber nicht zu stemmen», sagt der Luxemburger, bis vor kurzem Programm-Geschäftsführer beim deutschen Grossverlag Hoffmann und Campe. Dessen Verleger Thomas Ganske Simenon ist ebenfalls ein alter Simenon-Fan.

     Die beiden einigten sich schnell auf die Verteilung der Titel: Halbjährlich werden ungefähr fünfzehn Maigrets und fünf grosse Romane im Kampa Verlag erscheinen, parallel dazu fünf grosse Romane bei Hoffmann & Campe. Alle bereichert ein Nachwort von einem bekannten Autor. Später folgen Taschenbuchausgaben, und Hörbücher der deutschen Neuauflage sind bei DAV in Arbeit.

   «Reich werden wir bei unserem grossen Aufwand wohl kaum», weiss Daniel Kampa. «Aber wir hoffen, unser kleines Team könne davon leben.» Wenn seine Begeisterung das Lesepublikum ansteckt, können sich die Fans des grossen Georges Simenon freuen. 

Marie-Louise Zimmermann, erschienen in der Aargauer Zeitung vom 4.10.2018.