DOKU-ROMAN

Zwischen Hofwyl und Euböa

Fundiert und farbig erzählt Geneviève Lüscher in «Achmetaga» die ungewöhnliche Auswanderungsgeschichte eines Berner Patrizierpaares. Sie begann und endete in Hofwil bei Münchenbuchsee, wo im 19. Jahrhundert ein agronomisches und pädagogisches Pilotprojekt berühmt war.

Die Protagonisten in Geneviève Lüschers historischem Roman sind geprägt von Hofwil (früher Hofwyl geschrieben). Inspiriert von den Reformideen der Aufklärung, hatte der Berner Patrizier Philipp Emanuel von Fellenberg (1811-1892) auf dem Areal des heutigen Gymnasiums einen landwirtschaftlichen Musterbetrieb gegründet, dazu eine europaweit berühmte Bildungsanstalt für Söhne gehobenen Standes, aber auch eine Armenschule. Seine Frau Margarethe Tscharner betreute die Grossfamilie, zu der ausser den Institutszöglingen acht eigene Sprösslinge sowie Pflegekinder gehörten. Doch ihr Gatte war ein jähzorniger Despot, der sich mit allen verkrachte und seine Söhne ins Ausland trieb.

Emigration aus Idealismus

Auch seine Tochter Emma wanderte aus nach ihrer Heirat mit Charles Müller, den sie von seiner Schulzeit in Hofwyl kannte. Der Sohn eines Offizieres in der britischen Armee hatte zusammen mit seinem englischen Freund Edward Noel, ebenfalls ein ehemaliger Hofwyler, ein grosses Stück Land auf der griechischen Insel Euböa gekauft: nicht aus materieller Notwendigkeit, sondern aus Solidarität mit dem Befreiungskampf der Griechen gegen vierhundert Jahren türkischer Herrschaft. Der Patriarch von Fellenberg teilte diese ganz Europa erfassende philhellenische Begeisterung, verweigerte aber den Griechenlandpläne seiner beiden Söhne und zweier Töchter die Unterstützung.

Die Lebensbedingungen auf der Insel erwiesen sich als schwierig, vor allem für Emma:  Das abgelegene Gut Achmetaga war heruntergekommen, das Klima harsch, sie litt unter Einsamkeit und Heimweh. Doch während Edward Noel und seine Frau  bald aufgaben, brachte Charles die Land- und Forstwirtschaft, vor allem aber den Bauxitabbau zum Erfolg. Trotzdem kapitulierte er schliesslich vor den bedrohlichen politischen Unruhen und kehrte mit seiner Frau zurück nach Hofwil, das er von den zerstrittenen Erben des Gründervaters kaufen konnte. Die beiden liegen in der Familiengruft des (in Privatbesitz befindlichen) Schlossparks.

Aufwendige Recherche

Auf ihre Geschichte stiess Geneviève Lüscher durch ihre Rezension einer Dissertation über die Familie Fellenberg in Hofwyl. «Mich faszinierte die europaweite Ausstrahlung eines fortschrittlichen Sozialprojekts in der Nähe meines Wohnorts Bern», sagt die Wissenschaftsjournalistin. Zwei Jahre hat sie für ihren historischen Roman recherchiert. Auf der Berner Burgerbibliothek fand sie viele Briefe der Familie Fellenberg, in andern Bibliotheken und vor allem im Internet zwei Dutzend einschlägige Publikationen. «Ich konnte an einem Faden ziehen und immer mehr Fakten kamen zum Vorschein», erzählt sie. «Diese Detektivarbeit machte mir grossen Spass.» 

Und es habe sie berührt, das ehemalige Gut Achmetaga zu sehen, das heute Kandili heisst und von einer Nachfahrin Edward Noels betrieben wird. Lüscher und ihr Mann, als Archäologen mit altem Bezug zur Griechenland, verbrachten ein Jahr auf Euböa, während sie ihren Roman schrieb. Deshalb wohl ist darin die Landschaft so präsent mit ihrem intensiven Pinienduft und den spektakulären Sonnenuntergängen. Als Nebenprodukt gibt es im Internet einen sehr persönlichen Wanderführer für die vom Tourismus wenig berührte Insel.

Fakt und Fiktion

Und woher stammen die prägnanten Charakterzüge der Romanfiguren? «Das war nicht leicht, weil ihre Briefe zwar viele Details, aber wenig Gefühle enthalten», sagt die Autorin. Und sie gibt zu: «Einige Eigenschaften von Emma stammen eigentlich von ihrer Schwester Olympe, mit ihrem Mann – noch ein ehemaliger Hofwyler – auch Gutsbesitzer in Griechenland und viel positiver eingestellt.» Aber sonst gebe es kaum eine Erfindung, die sich nicht durch Berichte oder Bilder belegen lasse.

Was all jene freut, die bei der Lektüre eines historischen Romans zwischen Fakt und Fiktion unterscheiden möchten: Die suggestiven Erzähltexte, die ausgiebigen Briefzitate und die fundierten Hintergrundstexte erscheinen in verschiedenen Schriftarten. Dabei wird man gefesselt von den farbigen Szenen und erwirbt zugleich viel verbürgt historische Kenntnis. So sollte ein Dokuroman sein!

Geneviève Lüscher: Achmetaga. Ein Patrizierleben zwischen Griechenland und Bern. Stämpfli Verlag, 251 S.

Marie-Louise Zimmermann, erschienen in der Berner Zeitung vom 6.6.2018