DONNA LEON

Alle fressen ihr aus der Hand

Eine Woche lang gibt die Bestsellerautorin im Wallisser Dorf Ernen ein Seminar über Kurzgeschichten. Und begeistert ihr Publikum mit ihrer Liebenswürdigkeit, ihrer Leidenschaft für gute Literatur und ihrem komischen Talent.

Gut sieht sie aus in ihrem aprikosenfarbenen Pullover – den sie in der Bubenabteilung eines Warenhauses gekauft hat, wie sie später erzählt. Und umwerfend ist die 65-Jährige, wenn sie redet. Dann strahlen ihre hellen Augen unter den markanten Brauen, und ihre schönen Hände gestikulieren mit italienischer Ausdruckskraft. Denn Donna Leon doziert nicht über Literatur, sie erweckt sie zum Leben. Wenn sie etwa aus einer Short Story vorliest, imitiert sie mit komischem Talent die verschiedenen Sprechweisen der Figuren.

Erfahrene Lehrerin
Das Publikum frisst ihr aus der Hand. Zwei Dutzend Literaturbegeisterte sitzen im imposanten Gemeindesaal des Bilderbuchdorfes im Goms: vorwiegend Frauen mittleren Alters, darunter eine Lehrerin, eine Bibliothekarin, eine Psychologin, eine Logopädin. Alle haben die acht vorgegebenen, meist amerikanischen Kurzgeschichten gründlich gelesen und beteiligen sich mutig an der englischsprachigen Diskussion.
Denn als erfahrene Lehrerin greift Donna Leon jeden Beitrag auf und lenkt das Augenmerk auf ungewohnte Aspekte. Dabei geht es ihr vor allem um die Psychologie der Figuren und um die Atmosphäre ihrer Epoche. Dass dabei das eigentliche Schreibhandwerk zu kurz kommt, scheint die Zuhörenden nicht zu stören, von denen nur wenige eigene literarische Ambitionen haben.
Sie nehmen auch der assoziativ denkenden Dozentin ihre Exkurse nicht übel, etwa gegen die Verluderung der Sprache, die Unzuverlässigkeit der Medien, die Gewalt in der Romanliteratur oder den Genuss von Rindfleisch.

Erfolgreiches Konzept
Nein, inspirierend sei sie nicht, dafür amüsant. So wehrt sich Donna Leon gegen ein Kompliment am Schluss des schnell verflogenen Morgens. Doch ihre offensichtliche Freude an der Vermittlung grosser Literatur ist mitreissend.
Abends dann kann man sich bei einem Barockkonzert in der Dorfkirche von den intellektuellen Strapazen erholen. Das Konzept scheint aufzugehen: Viele Gäste planen bereits, nächstes Jahr wiederzukommen. Falls Donna Leon dann auch dabei ist..

Der neue Krimi
Zu Beginn von «Lasset die Kinder zu mir kommen» dringen Carabinieri in die Wohnung eines angesehenen Kinderarztes ein, schlagen diesen brutal nieder und entreissen ihm sein 18 Monate altes Söhnchen, weil er dieses illegal adoptiert haben soll. Bei seinen Nachforschungen stösst Commissario Brunetti, unterstützt von der famosen Signorina Elettra, auf einen Korruptionsskandal unter Medizinern und Apothekern. Die auf einem realen Fall von Kinderhandel basierende Geschichte wirft bedeutsame ethische Fragen auf. Doch sie entwickelt sich etwas zäh, vor allem wegen der vielen Abschweifungen zu Themen wie Bevölkerungsentwicklung, Fortpflanzungsmedizin oder den Pflastersteinen von Venedig. Nicht Donna Leons spannendstes Buch, aber wohl das berührendste.
Marie-Louise Zimmermann
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INTERVIEW

«Ich hasse es, prominent zu sein»

Interviews verweigert die temperamentvolle Amerikanerin in der Regel. Beim Mittagessen auf dem Dorfplatz nimmt sie sich dann doch Zeit für ein Gespräch.

ML. Zimmermann: Warum kommen Sie als prominente Autorin in ein Dorf, um fünfzig Leuten etwas über Literatur zu erzählen?

Donna Leon: Weil es mir Spass macht! Ich kann hier mit Menschen zusammen sein, die ich gern habe, und überdies gute Musik hören.

Ihre Teilnahme am Literaturseminar hilft sicher der Barockmusikwoche in Ernen.

Man muss etwas tun für die klassische Musik, die es zunehmend schwer hat! Und der Initiant Francesco Walter wie Ada Pesch, die Leiterin des Ensembles St.Georg, sind gute Freunde.

Sie haben schon vielerorts englische Literatur unterrichtet. Was ist anders hier?

Ich schätze es, mit Menschen zu arbeiten, die freiwillig kommen und eine gewisse Lebenserfahrung mitbringen.

Viele davon haben offenbar schon mehrmals teilgenommen.

Ich bin froh für alle, die mich kennen und ihre blöde Ehrfurcht abgelegt haben. Ich hasse es, prominent zu sein!

Wollen Sie deshalb nicht, dass Ihre in gut dreissig Sprachen übersetzten Bücher auch auf Italienisch erscheinen?

Nur deshalb, und nicht wegen meiner Kritik an der Wahlheimat. Darin geben mir nämlich die meisten Italiener Recht. Ich will einfach an meinem Wohnort nicht erkannt werden.

So leben Sie immer noch in Venedig?

Natürlich! Aber ich bin auch viel unterwegs: in Paris oder London und alle zwei Jahre in Amerika.

Von Ihrem Geburtsland scheinen Sie aber wenig zu halten. Sie haben ihm schon vor vierzig Jahren den Rücken gekehrt.

Ich fliege auch nur hin, um meinen Verleger zu treffen. Dann aber amüsiere ich mich eher, als mich zu ärgern. Es ist ein Disneyland und das Fernsehen eine Realsatire.

Sie sind aber auch oft in der Schweiz.

Weil ich meinem Verleger Daniel Keel so sehr zu Dank verpflichtet bin, dass ich mich auf Lesetourneen schicken lasse.

Wie sind Sie überhaupt zu Diogenes gekommen?

Zwei deutsche Verlage interessierten sich für mich: der Gigant Bertelsmann und ein kleiner Schweizer Unabhängiger. Ich entschied mich für Letzteren und wurde als Unbekannte extrem gut behandelt.

Weshalb wohl haben Sie im deutschsprachigen Raum den grössten Erfolg?

Wahrscheinlich, weil mein Kommissar ein so kultivierter, anständiger Europäer ist. Das angelsächsische Publikum scheint rasantere, blutigere Geschichten vorzuziehen.

Sie reden nicht gerne über Brunetti. Wie steht es denn mit seiner Frau? Ist sie eine Art Selbstporträt?

Natürlich steckt viel von mir in Paola, aber auch in ihrem Mann.

Und sind Sie auch so angetan von guter Küche?

Und wie! Nächstes Jahr gebe ich ein Kochbuch heraus, für das ich meine italienischen Bekannten um die Rezepte gebeten habe, mit denen sie mich verwöhnen.

Kommt trotzdem eine neue Brunetti-Geschichte?

Die siebzehnte ist auf Englisch erschienen, die nächste im Manuskript fertig. Und für eine weitere habe ich bereits das Thema.

Die Ideen gehen Ihnen also nicht aus?

Es gibt immer etwas, worüber ich schreiben kann. Es kommt nicht darauf an, was man sieht, sondern von wo aus man es sieht.

Marie-Louise Zimmermann
(Erschienen in der Berner Zeitung vom 24.7.2008)