BINNTAL

Nostalgiehotel in Blumenwiesen

Dass es das überhaupt noch gibt in unseren kommerzialisierten Alpen: eine Landschaft ohne Apartmenthäuser oder Seilbahnmasten, ausgerechnet im wohl meist verschandelten Tourismuskanton Wallis. Stattdessen findet man im Binntal braungebrannte Holzhäuser und hübsche Kapellen in blühenden Wiesen und Alpweiden, harzduftende Lärchenwälder und klarsprudelnde Bäche.
So intakt erhalten hat sich das kleine Walliser Tal wegen seiner Abgeschiedenheit. Zwar bedeutete es seit Römerzeiten eine wichtige Durchgangsroute nach Italien. Doch bis zum Bau des Strassentunnels durch die Schlucht am Taleingang gab es im Winter oft kein Durchkommen: wegen der Lawinen, die auch die Entwicklung des Skitourismus verhinderten. Und 1964 war das Umweltbewusstsein der Gemeinde so weit fortgeschritten, dass sie einen Grossteil ihres Gebietes unter Naturschutz stellte.

Rettende Genossenschaft
Eine weitere mutige Tat war gut zwanzig Jahre später die Gründung der Genossenschaft „Pro Binntal“ zur Rettung der wichtigsten Unterkunftsmöglichkeit im Tal: das 120-jährige Hotel Ofenhorn im kleinen Hauptdorf, das eigentlich Schmidigehisere heisst, heute aber offiziell Binn.
Das markante Gebäude aus der Pionierzeit des Schweizer Tourismus war einst beliebt bei wohlhabenden englischen Reisenden. Es erholte sich aber nie mehr von der kriegsbedingten Krise und stand 1985 vor dem Aus. Doch seither haben über tausend Stammgäste, vor allem aus der Schweiz, Holland und den USA, Anteilscheine an der Genossenschaft gezeichnet.
Sie schätzen die gemütliche Unterkunft im sanft renovierten Haus, die familiäre Betreuung und die einheimische Küche: am Schönsten zu geniessen auf der Gartenterrasse am rauschenden Bach, mit Blick auf die Wasseramsel, die unter der alten Bogenbrücke nistet.
Wer Freude hat an Vögeln, Blumen und Schmetterlingen, kommt im Binntal auf seine Rechnung. Unmittelbar hinter dem Dorf stehen im Juni die Magerwiesen voll violettem Storchenschnabel, weissen Margeriten, dunkelblauem Salbei, rosa Nelken, bärtigen Glockenblumen. Dazwischen finden sich seltene Graslilien, Türkenbund und mancherlei Orchideen. Und über der Blumenpracht gaukeln Schwärme von Bläulingen, manchmal auch ein Apollofalter oder ein Schwalbenschwanz.
Tal einwärts steigt man hoch durch einen lichten Lärchenwald, wo sich zwischen seidigen Gräsern blaue Akelei und gelbe Veilchen verstecken. Und dann gelangt man auf den Alpweiden in das Fest des Bergfrühlings mit Enzian, Primeln, Anemonen, Stiefmütterchen, Männertreu, Steinbrech und wie die Schönheiten alle heissen.
Berühmt ist das Binntal auch wegen der Lengenbach-Grube, die zu den reichsten Mineralvorkommen der Alpen zählt. Ihre Ausbeute ist zwar ausschlieslich Wissenschaftlern vorbehalten, doch kann man in der Abraumhalde interessante Funde machen. Vor allem Kinder lieben es, dort herumzuhämmern. Grosse Bergkristalle zeigt das gut gemachte Heimatmuseum in der ehemaligen Dependance des Hotels Ofenhorn, zusammen mit vielfältigen Zeugen bäuerlicher Kultur aus einer Vergangenheit, die bis zu Steinzeitfunden zurückreicht.

Lohnende Wanderungen
Es führt zwar ein Fahrsträsschen durchs Tal, doch am schönsten entdeckt man das Binntal natürlich zu Fuss. Man kann auf verschiedenen Routen hinein wandern: von Grengiols im Goms auf dem alten Saumweg durch die Twingischlucht oder – anstrengend, aber botanisch lohnend – über die Furgge; weniger steil und sehr schön ist der Weg über den Saflischpass von Rosswald aus (eine Seilbahn fährt ab Brig).
Und eine reine Freude bedeutet die Wanderung durch Wiesen, Wald und Weiden an hübschen Weilern vorbei in den Talkessel hinein. Von dort führt eine lohnende Passwanderung über den Albrun nach Italien zur Alpe Dévero und ins Val Formazza (Übernachtungsmöglichkeit in der SAC-Hütte). Für den Rückweg nach Binn kann man zum idyllischen Halsenseelein hinaufsteigen und linksufrig der Binna folgen: bei hoch gehenden Seitenbächen allerdings ein ziemliches Abenteuer.

Tipps & Infos
Anfahrt: Zug nach Brig, Postauto via Ernen (lohnender Zwischenhalt). Hotel Ofenhorn: geöffnet ab 10. Juni bis Mitte Oktober. 70 Betten. Übernachtung mit Frühstück pro Person Fr. 73.- im Doppelzimmer mit eigener Dusche, Fr. 53.- im Doppelzimmer mit Etagenbad. Tel. 027 971 45 45. Alternative: Hotel Albrun, Tel. 027 971 45 82.
Geführte Wanderungen für botanisch oder mineralogisch Interessierte: Auskunft beim Fremdenverkehrsverein Binn, Tel. 027 971 45 47. Info: www.binn.ch und www.binntal.ch. Wanderbuch: Brig-Aletsch-Goms, Verlag Kümmerly+Frey.

Marie-Louise Zimmermann
(Erschienen in der Berner Zeitung vom 24.7.2007)