KASSEL/MÜNSTER

Der Kunstmarathon lohnt sich


Auf dem Friedrichsplatz in Kassel steht der «Tempel der verbotenen Bücher der argentinischen Künstlerin Marta Minujin.

Wer sich für zeitgenössische Kunst interessiert, sollte jetzt nach Deutschland reisen: an die Documenta 14 in Kassel und die 5. Skulpturenschau in Münster. Die Überfülle oft sperriger Werke ist recht anstrengend, aber ungemein anregend.

Von seinem Sockel blickt Landgraf Friedrich II von Hessen-Kassel diesen Sommer nicht nur auf sein Kunstmuseum, das Fridericianum, sondern gleich daneben auf den Athener Parthenontempel: Eine argentinische Künstlerin hat ihn originalgross nachbauen lassen. Während hundert Tagen füllen sich nun die Säulen aus Metallgitter mit Büchern, die in Diktaturen verfemt waren oder sind. Unweit davon steht ein Stapel von Abflussrohren, eingerichtet als Notunterkunft: die Erinnerung eines kurdischen Künstlers an seine Flucht aus dem Irak. Und ein südamerikanischer Kollege liess auf der nahen Wiese eine grosse Holzkonstruktion errichten als Mahnmal an die koloniale Ausbeutung bolivianischer Minenarbeiter.

Die Kunst hat ihren Elfenbeinturm längst verlassen und zeigt sich betroffen von den Problemen unserer Welt. Deshalb auch findet die in Kassel beheimatete Documenta diesmal zugleich in Athen statt. Und die Gastgeber haben das dortige moderne Kunstmuseum eingeladen, im zentralen Ausstellungsgebäude, dem Fridericianum, seine substanzielle Sammlung zu präsentieren, die in Griechenland aus Geldmangel nie gezeigt werden konnte: eine grosszügige Geste der Solidarität.

Viele unbekannte Namen
Solche Finanzsorgen kennt die mit 36 Millionen dotierte Documenta 14 nicht. Sie geht zurück auf 1955, als der Kasseler Künstler Arthur Bode eine Gartenschau in seiner zerbombten Stadt erweiterte mit Gemälden, die nicht lange zuvor als entartet gegolten hatten. Seither prägt alle fünf Jahre ein anderer Ausstellungsmacher diese weltweit wichtigste Schau zeitgenössischer Kunst. Diesmal ist es Adam Scymczyk, langjähriger Leiter der Basler Kunsthalle. Dezidiert hat er sich dem Kommerz der grossen Galerien und den überprominenten Namen verweigert. Und statt auf spektakuläre Provokation setzt er auf kluge Raffinesse.

Die meisten der gut 160 in Athen wie in Kassel gezeigten lebenden Künstler (fast zur Hälfte Frauen) sind wohl nur in Fachkreisen bekannt. Viele arbeiten performativ, vor Ort live oder im Video wie bei Alexandra Bachzetsis aus Basel. Verletzliche Körperlichkeit prägt auch die eindrücklichen Malereien von Miriam Cahn, dem gewichtigsten Schweizer Beitrag. Sie ist 68jährig, rund ein Drittel der Teilnehmenden um die fünfzig. Dazu kommen über sechzig Verstorbene, wie zum Beispiel die begabte Cornelia Gurlitt aus der berühmten Kunsthändlerfamilie. Entdeckungen lassen sich also nicht nur bei der jüngsten Generation machen, sondern nicht zuletzt bei älteren, immer noch gültigen Positionen.

Viel politisches Engagement
Viele Werke thematisieren globale Probleme: Kolonialismus und Rassendiskriminierung, agressiven Nationalismus und den Protest dagegen, Armut, Flüchtlingselend, Umweltzerstörung. Doch fast ausnahmslos äussert sich das Engagement in solider künstlerischer Qualität aus nachvollziehbarer subjektiver Perspektive. Die Werke kommen aus allen Ecken der Welt: eine gestickte Landschaft aus Lappland oder ein gemaltes Urwaldherbarium, buddhistische Reliefs oder solche von der Armeegewalt in Pakistan, figurenreiche Malereien einer Mongolin, eines Haitianers oder australischen Aborigine, Fotoserien von hungernden Menschen in Indien oder von Heuhaufen in Kosovo, ein zum Instrument gemachtes zerbrochenes Flüchtlingsboot und und…

Zusammengehalten wird diese Vielfalt durch kluge inhaltliche oder formale Bezüge, die sich beim Mitdenken meist erschliessen. So ist ein feingewobenes Netz entstanden, welches das vielseitige künstlerische Schaffen unseres Planeten einfängt. Wie ein Motto wirkt das riesige Video, das gemalte oder gemeisselte Antlitze aus allen Erdteilen mit den Gesichtern heutiger Menschen überblendet.

Gezeigt werden die gefühlt tausende Werke an mehreren Orten, die man oft in Kassels dröger Architektur der Fünfzigerjahre suchen muss. Zum Beispiel im leer stehenden mehrstöckigen Hauptpostgebäude, wofür man sich bereits einen halben Tag Zeit nehmen müsste. Die Monsterschau bedeutet eine totale Überforderung – wie ein riesiges Buffet à discrétion, an dem man sich unweigerlich überisst. Zu bedauern sind die Presseleute, die nach der Eröffnung unter brutalem Aktualitätsdruck in kurzer Zeit dem vielen erstmals Gesehenen gerecht werden mussten. Vielleicht erklärt das den oft bissigen Ton der vorwiegend negativen Kritiken. Mit der nötigen Zeit und Ausdauer aber kann Kassel zum anregenden Erlebnis werden.

Viele zugängliche Werke
Lohnend ist auch die Weiterfahrt nach Münster in Westfalen. Die traditionsreiche Bischofs- und Universitätsstadt nördlich von Kassel wurde im Zweiten Weltkrieg ebenfalls stark beschädigt, aber nicht schnell und billig wieder aufgebaut, sondern sorgfältig nach historischem Vorbild. Das wirkt zwar etwas kulissenhaft, aber wohltuend atmosphärisch und erinnert mit den Backsteinhäusern und vielen Fahrrädern an das nahe Holland. Ein Mietvelo empfiehlt sich, denn die 35 Arbeiten der 5. Skulpturenschau sind weit verstreut. Das hat Tradition und ist Absicht: 1973 wurde hier heftig protestiert gegen eine abstrakte Plastik. Das nahm der westfälische Kunstprofessor Kasper König zum Anlass, die Bevölkerung mit überall in der Stadt aufgestellten Werken an die moderne Kunst heranzuführen. Er ist (zusammen mit zwei Kuratorinnen) noch immer verantwortlich für die alle zehn Jahre stattfindende, gratis zugängliche Schau. Mehrere der bisher präsentierten Werke hat die Stadt angekauft – ohne Bürgerprotest.

Der Begriff «Skulptur» hat sich inzwischen sehr ausgeweitet: Darunter fallen auch Projekte wie ein knapp unter der Wasseroberfläche liegender Steg über das Hafenbecken, der fröhlich benutzt wird. Auf viel Interesse stossen auch die Tagebücher in der Kleingartenkolonie, welche die Pächter auf Anregung eines Künstlers angelegt haben. Eindrücklich ist die Mondlandschaft in der abzureissenden Eishalle, schockierend das Video chinesischer Arbeitsbedingungen in einem asiatischen Laden, kafkaesk die im Kunstmuseum eingebaute Wohnung. Und dann gäbe es noch die Werke in der erstmals beteiligten Nachbarstadt Marl. Aber irgendeinmal sind auch die echtesten Kunstfreaks müde vom Marathon…


Fröhlich benützt wird in Münster der nasse Steg über das Hafenbecken der in Deutschland lebenden Türkin Ayse Erkmen.

 

Infos und Tipps

Ausstellungsdauer: Kassel bis 17. September täglich 10-20 Uhr (Mo teilweise zu). Tageseintritt 22 E, für 2 Tage 38 E.
Münster bis 1. Oktober, grossenteils immer zugänglich, eintrittsfrei. Mietvelos.

Anreise: Bahn Basel SBB-Kassel 4 1/2 Std., weiter nach Münster 2 ½ Std. Rückfahrt nach Basel 6 Std. Sparbillette.

Zeitbedarf: idealerweise für Kassel 3, für Münster 2 Tage.

Unterkunft: Günstig im Hotel Ibis, Kassel und Hotel B+B, Münster.

Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in der Berner Zeitung vom 21.7.2017)