COUCHSURFING

Eintauchen in fremde Leben

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Die geretteten Biker Abby und Robby aus Pensylvania.

Ein internationales Netzwerk verbindet Menschen, die kostenlos Unterkunft anbieten und nutzen. Damit reist man nicht nur billig, man lernt vor allem unterschiedlichste Leute kennen. Zunehmend entdecken auch ältere Abenteuerlustige diese Chance. Ein Erfahrungsbericht.
„Und wie konntest du dir das leisten?“ frage ich meine Enkelin, die mir von ihrer langen Reise erzählt, obwohl sie doch als Studentin mit minimalem Budget auskommen muss. „Couchsurfing natürlich“, sagt sie, kopfschüttelnd ob meiner Unkenntnis dieser populären Einrichtung.
So mache ich mich kundig und bekomme dabei Lust mitzumachen. Die Anmeldung auf www.couchsurfing.com ist einfach: Man stellt eine Beschreibung seiner Person und Wohnung samt Foto ins Netz (notfalls mit Hilfe einer Hotline) und bezahlt 20 Franken für den Sicherheitscheck von Adresse, Telefon- und Kreditkartennummer. Nachher sind Geldtransaktionen zwischen Gästen und Gastgebern verboten, kleine Geschenke oder Hilfeleistungen dagegen erwünscht.

Sorgfältige Auswahl
Meine Töchter jedoch machen sich aber Sorgen um mich, reden von Diebstahl, Vergewaltigung, gar Raubmord. Ich verspreche, Profile und Referenzen sorgfältig zu prüfen, bevor ich mein Sofa anbiete oder mich einladen lasse.
Das kostet Zeit, denn sobald mein Angebot aufgeschaltet ist, mailen mir fast täglich junge Leute, die in meinem Wohnzimmer übernachten möchten. Offenbar bin ich trotz meines Alters gefragt – vielleicht auch nur, weil ich zentral wohne. Das bedeutet, dass ich auswählen kann und muss.
Allzu schlecht geschriebene Anfragen lehne ich ab, schliesslich hoffe ich auf gute Gespräche. Deshalb kommt auch nicht in Frage, wer sich bloss für Popmusik und Swiss Beer interessiert oder offensichtlich nur ein Gratisbett sucht. Schliesslich beherberge ich für je zwei oder drei Tage acht Gäste aus fünf Ländern: lauter lohnende Begegnungen.

Erfreuliche Gäste
Den Anfang macht Petch aus Bangkok, der in Deutschland studiert. Er ist angereist, um Eiger, Mönch und Jungfrau zu sehen, deren Foto er als Kind bewundert hat. Begeistert entdeckt er sie von meinem Balkon aus. Erst schüchtern, dann offenherzig erzählt er von seiner Familie und seinen Zukunftsplänen, während er mir beim Stopfen von Umschlägen für einen Massenversand hilft – ein reizender junger Mann!
Andrea ist Lehrerin in einem patagonischen Bergdorf, Gerado Schreiner. Er flickt mir spontan eine wackelige Türfalle und fragt nach sonst noch Reparaturbedürftigem. Das Ehepaar sucht in Europa Verwandte seiner ausgewanderten Vorfahren und geniesst unseren Stadtbummel – dankbare Gäste!
Amélie und Quentin komplimentiere ich als erstes in die Waschküche, weil sie penetrant nach Ziege riechen: Sie kommen gerade von einem freiwilligen Einsatz bei einem Freiburger Bergbauern. Sonst arbeitet sie als Psychologin an der Universität Dijon, er ist Stadtplaner. Sie haben per couchsurfing die ganze Seidenstrasse bereist – interessante Gesprächspartner!
Knapp zwanzig ist Sho aus China, die mir eines Abends ein SOS schickt: Ihr Gastgeber ist nicht eingetroffen. Munter fügt sie sich in meinen Alltag ein, kocht für mich und macht erstmals in ihrem Leben eine lange Wanderung. Zum Abschied schenkt sie mir mit nassen Augen ein Seidentuch – eine anrührende junge Frau!

Robby und Abby aus Pensylvania, auf Hochzeitsreise ein halbes Jahr unterwegs von Rom nach Hamburg, haben eine Velopanne. Sie harren über Pfingsten bei mir aus, doch die Zeit wird uns nicht lang bei unseren Diskussionen über Gott und die Welt – noch eine positive Erfahrung!

Unkomplizierte Gastgeber
Das macht mir Mut, es selbst als Gast zu versuchen. Ich wähle dafür als unproblematisches Nahziel Deutschland, wo es nach den USA die meisten Angebote gibt. Nach meinen vielen Kontakten mit jungen Leuten suche ich zuerst Gastgeber über sechzig und lande bei Gero und Thea im bayrischen Landshut. Der Astronomieprofessor und die Theologin bieten mir ein eigenes Zimmer in ihrem gemütlichen Haus im Grünen. Ich lerne etwas über Sterne und über Flüchtlingsbetreuung, werde in der herausgeputzten Altstadt herumgeführt und sogar an den Chiemsee gefahren. Und vor allem tauschen wir beim gemeinsamen Kochen und Gärtnern unsere Familiengeschichten aus.

Nur halb so alt ist Stefano, bei dem ich in der schönen alten Stadt Regensburg wohne. Aus einem italienischen Dorf stammend, hat er es zum Verkaufsingenieur einer grossen deutschen Firma geschafft und ist stolz auf seine makellose neue Wohnung. Wir geniessen den Fronleichnamsonntag zusammen mit Laura, meiner nächsten Gastgeberin. Ihr Sofa steht im leicht chaotischen Wohnzimmer einer studentischen WG, wo ich einen angeregten Gesprächsabend verbringe. Und mich freue, dass die Meinungen einer Seniorin diese gescheiten jungen Leute interessieren.

Spontane Freundschaften
Trotzdem schätze ich nachher meine Begegnung mit einer Altersgenossin in München: Christine ist nach ihrer Frühpensionierung fünfzehn Monate mit bescheidenem Budget allein um die Welt gereist bis an entlegendste Orte. Zusammen unterwegs in den sommerlichen Parks und Biergärten hören wir nicht auf zu schwatzen und werden unsern Erfahrungsaustausch sicher weiterführen.

Stefan, mein letzter Münchner Gastgeber, forscht als Chemiker an der LMU auf dem Gebiet der Nanotechnologie. Entspannt teilt er seine winzige Wohnung mit mir, nimmt mich mit an die Uni und gibt mir gute Ratschläge für meine Museumsbesuche: Eine ebenso eindrückliche wie liebenswürdige Persönlichkeit, die ich ohne Couchsurfing nie kennen gelernt hätte.

Immer wieder überraschte mich, wie schnell Freundschaft entstehen kann. So viele Reiseerlebnisse oder Lebensgeschichten habe ich geteilt, so viel diskutiert über alle möglichen Weltprobleme! Und überraschend komfortabel waren die Uebernachtungen im Schlafsack auf Sofas in unterschiedlichsten Wohnungen. Es ist dieses momentane Eintauchen in fremde Leben, was den grossen Reiz von Couchsurfing ausmacht. Ich werde nicht so schnell damit aufhören.

Netzwerk der Gastfreundschaft

Couchsurfing ist eine erstaunliche Erfolgsgeschichte, ungeachtet der Kritik an Kommerzialisierung und forciertem Wachstum.
2003 von kalifornischen Studenten gegründet, zählt die Internet-Organisation heute gegen 10 Millionen Mitglieder in fast allen Ländern der Welt. Ueber 6‘000 sind allein in der Region Bern registriert – allerdings viele davon ohne persönliche Angaben und Foto, also nicht wirklich brauchbar. Seit der Kommerzialisierung vor vier Jahren wurde zugunsten der Werbung das Wachstum forciert und frühere Mitglieder beklagen den Verlust an Idealismus, Persönlichkeit, Zuverlässigkeit. Doch noch immer werden verschwindend wenig negative Erfahrungen gemeldet.
Wie erfolgreich man couchsurft, hat man weitgehend selber in der Hand: Wer ein informationsreiches Profil schreibt, bekommt Anfragen von Gleichgesinnten. Gäste wie Gastgeber kann man auf Grund ihrer Selbstbeschreibung und der Referenzen gezielt auswählen, allenfalls nach Geschlecht und Alter beschränkt. Wichtigste Voraussetzung sind ein umkomplizierter Anpassungswille und tolerante Kontaktfreude.
www.couchsurfing.com

Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in der Berner Zeitung vom 23.6.2015)

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Das gastfreundliche Ehepaar Thea und Gero in Landshut. (Fotos: mlz)