GEORGIEN

Entdeckungsreise im Kaukasus


Ein mythischer Ort: die Festungskirche von Stepansminda. (Bild: Giorgi Liparteliani)

Georgien: Ueberwältigende Landschaften, gut erhaltene Zeugen einer uralten christlichen Kultur und gastfreundliche Einheimische lohnen die Mühen einer Reise in touristisches Neuland.  

Golden glänzt im Abendlicht die Festungskirche hoch über dem Bergdorf Stepansminda an der georgisch-russischen Grenze. Dahinter leuchtet im durchsichtig klaren Himmel die Schneeflanke des über 5000m hohen Kasbek, wo in der griechischen Mythologie Prometheus angekettet war. Kühe und Pferde grasen auf der weiten stillen Alp und über den grauen Felsbastionen des Grossen Kaukasus kreist ein Adlerpaar.
Dieses Erlebnis haben wir verdient mit einer langen Fahrt zwischen Lastwagenkolonnen auf der alten Heerstrasse in den grossen Kaukasus: dankbar für die Nerven unseres Chauffeurs Giorgi, wenn Kamikaze-Automobilisten in Kurven überholten. Und interessiert an allem, was er über die Gegend zu erzählen wusste.

Touristisches Neuland
Ein Mietauto mit Fahrer empfiehlt sich in diesem Land mit ausbaubedürftiger Infrastruktur. Lange war an Reisen nach Georgien kaum zu denken:  Seit 1921 gehörte die seit der Antike berühmte Gegend zur Sowjetunion, und mit der Unabhängigkeit 1991 begannen die Bürgerkriege. Die russischen Gäste in beliebten Thermalbädern wie Tskaltubo blieben weg, die pompösen Kurhotels wurden zu elenden Flüchtlingsbehausungen. Kein Wunder, trauern viele Einheimische dem einstigen Wohlstand nach und pilgern immer noch zum Stalin-Museum an seinem Geburtsort Gori.
Doch jetzt sind die Zeiten friedlich und die Touristen kommen wieder, vor allem aus dem ölreichen Nachbarland Aserbeidjan, dem Iran oder Osteuropa. In den grossen Hotels und Restaurant erinnert der Service aber noch stark an Sowjetzeiten. Sympathischer sind die kleinen Gasthäuser, wo die Besitzerfamilie selber kocht und den seltenen Westlern mit freundlicher Neugier begegnet. Man verständigt sich mit Englischbrocken: Die georgische Sprache und Schrift sind für uns ein Buch mit sieben Siegeln.

Lebendige Hauptstadt
Voller Kontraste ist die Hauptstadt Tbilisi (Tiflis), reizvoll gelegen zwischen Hügeln an einem breiten Fluss. Manche der traditionellen Altstadthäuser mit schmiedeisernen Balkonen sind bunt restauriert; bei andern verdecken Weinranken den notdürftig geflickten Zerfall. Doch die goldenen Kuppeln der orthodoxen Kirchen, aber auch die Synagoge und die Moschee erstrahlen in neuem Glanz.
Daneben protzen moderne Bauten von fragwürdigem Geschmack und Nutzen: Gigantische Ministerien, ein unbespielbares Opernhaus, eine überflüssige Fussgängerbrücke – gebaut von der vorgängigen Regierung mit internationalem Entwicklungsgeld. Derweil in den Aussenquartieren Plattenbauten und stillgelegte Fabriken vergammeln. Als Fussgänger lebt man gefährlich: Wer sich  eines der erstaunlich vielen grossen Autos in diesem armen Land leisten kann, kennt keine Rücksicht.
Schöner ist es unter den Platanen des Rustaweli-Boulevards, gesäumt von repräsentativen Barock- oder Jugendstilhäusern der einstigen georgischen Aristokratie. In den Restaurants an belebten Plätzen stillt man den Hunger mit „Katchapuri“ oder „Chinkali“, den landestypischen Käsefladen und Fleischkrapfen, oder mit Schaschlik an Walnusssauce. Daneben tafelt eine einheimische Grossfamilie mit wortreichen Trinksprüchen: Die kulturbewussten, geselligen Georgier sind stolz auf ihre Sprachgewalt und Belesenheit.
Gegen Abend kann man in den Polstern vor einem Gassencafé eine Wasserpfeife rauchen oder sich unter den Kuppeln des historischen Thermalbades erholen. Denn noch lockt eine Fahrt zur Festung oder dem Vergnügungspark auf einem der Stadthügel mit Blick auf das Lichtermeer.

Landschaften und Kirchen
Georgien bietet auf kleinem Raum grosse landschaftliche Vielfalt: Westwärts fährt durch die Rebberge, Obst- und Gemüsegärten von Kachetien, sieht dabei am Strassenrand seltene Vögel wie Wiedehopf und Bienenfresser. Abends probiert man im hübsch restaurierten Hügelstädtchen Signagi den nach uralter Methode gekelterten, schweren Rotwein. In der nahen Wallfahrtskirche ist die Nationalheilige Nino begraben, die im 4. Jahrhundert das Christentum von Syrien nach Georgien brachte.
Das Land ist reich an über tausendjährigen Wehrkirchen, mehrfach als Unesco-Kulturerbe ausgezeichnet. Durch ihre Kuppeln fällt gedämpftes Licht auf die strengen Heiligen und Könige der erstaunlich farbfrisch erhaltenen stilisierten Wandfresken. Ueberall beten andächtige Gläubige: Seit der Unabhängigkeit gedeiht das Christentum, die Klöster blühen auf.
Leer sind dagegen die in eine hohe Felswand des Kleinen Kaukasus gehauenen Zellen des labyrinthischen Höhlenklosters Wardzia. An seinem Fuss übernachtet man in einem geschmackvollen Guesthouse mit üppigem Garten. Die grünen Auen an den zwischen Pappeln und Weiden frei fliessenden Flüssen wirken lieblicher wirkt als die imposant schroffe Bergwelt des Grossen Kaukasus.
Ursprüngliche Wälder prägen das Naturreservat von Borjoni. Hier haben deutsche Biologen ein gutes Infozentrum eingerichtet und polnische Freiwillige sind dabei,  das ausgedehnte Gebiet zu kartieren. Trotzdem ist man in der von Bären, Luchsen und Wildschweinen bewohnten Wildnis wohl besser geführt unterwegs. Dasselbe gilt für die Provinz Swanetien im Norden, wo sich die Weiden im Bergfrühling in Blumenteppiche verwandeln. Der Kaukasus ist von atemraubender Schönheit – wie eine Alpenlandschaft ohne Tourismus.

 


Ein buntes Architekturgemisch: die Hauptstadt Tiflis. (Bild: ML Zimmermann)

Infos und Tipps
Geografie: Unabhängige Republik im südlichen Kaukasus zwischen Türkei, Aserbeidschan, Armenien, Russland. Grösse: W-O ca. 500 km, N-S ca. 200 km. 5 Mio. Einwohner
Transport: Anflug mit Turkish Airlines via Istambul. Im Land Eisenbahn, Busse, Kleinbusse („Marschrutka“ genannt). Nur Hauptstrassen gut ausgebaut, Mietwagen mit Fahrer/Führer erschwinglich.
Beste Reisezeit: Mai/Juni und Sept./Okt. Sommer schwülheiss, Winter schneereich.
Unterkunft: Viel Auswahl von komfortabel bis bescheiden, preisgünstig.
Veranstalter: Empfehlenswert Hans Heiner Buhr, www.kaukasus-reisen.com; guter Chauffeur/Guide: Giorgi Liparteliani. Beide sprechen Deutsch.

Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in der Berner Zeitung vom 30.12.2015)