GESPRÄCH MIT ROSEMARIE BURRI

«Jede Wanderung ist ein Geschenk für mich»

Die bekannte Pianistin verbringt jeden Tag viele Stunden an ihrem Flügel. Davon erholt sie sich gerne zu Fuss im nahen Bucheggberg. Auf ihrem Lieblingsweg dem Mühlibach entlang zur alten Grabenöli spricht sie über das Wandern in der Musik der Romantik und über ihr Bedürfnis nach Natur, die sie mit fortschreitendem Alter intensiver erlebt.


Rosemarie Burri (re) mit der Autorin unterwegs zur Grabenöli. (Bild: Sandra Karp)

«Das Wandern ist des Müllers Lust…»  Das Lied geht uns im Kopf herum auf dem Weg vom Dörfchen Oberwil bei Büren an der Aare zur Grabenöli. Die alte Mühle hat die seit vielen Jahren im «Buechibärg» heimische Berner Pianistin Rosemarie Burri als Ziel vorgeschlagen: kein Gipfel, aber doch ein Höhepunkt unserer Wanderung. Nach einem kurzen Stück Asphaltstrasse empfängt uns ein lichter Mischwald. Zwischen Büschen und Schachtelhalmen blinkt ein klares Bächlein, spiegelt das Buchengrün, stürzt sich über bemooste Felsen: «Und hat nicht Ruh bei Tag und Nacht, ist stets auf Wanderschaft bedacht…»

Rosemarie Burri, das Lied von der Wanderlust, das Sie gesummt haben, stammt aus Franz Schuberts Zyklus «Die schöne Müllerin». Die Musik der deutschen Romantik ist Ihnen nahe?
Sehr, nicht zuletzt wegen ihrem Bezug zur Natur. Der verliebte Geselle, von dem das Liede handelt, ist übrigens nicht bloss zum Vergnügen gewandert, sondern aus wirtschaftlicher Notwendigkeit: Die Zünfte verlangten von den Handwerkern, nach abgeschlossener Lehrzeit drei Jahre und einen Tag «auf Walz» zu gehen. Damit sammelten sie vor der Meisterprüfung vielfältige Erfahrungen und hofften wohl auch, in einen Betrieb einzuheiraten. Was dem Gesellen in Schuberts anderem Liederzyklus «Winterreise» nicht gelang, so dass er traurig zu Fuss durch den Schnee weiterzog.

Wandern bedeutete überdies die Möglichkeit, der repressiven Enge der deutschen Gesellschaft im 19. Jahrhundert zu entfliehen. Dieser Traum von Freiheit in der Natur hat viele Dichtungen und Kompositionen der Romantik inspiriert.
Ja, von Schubert gibt es noch die wunderbare «Wanderer-Fantasie» und von Schumann die «Waldszenen», ebenfalls für Klavier. Beide nicht leicht zu spielen! Und später hat Gustav Mahler die Thematik der wandernden Handwerker noch einmal aufgegriffen in den «Lieder eines fahrenden Gesellen».

Bedeutet Wandern auch für Sie eine Art von Befreiung?
Bestimmt, vom Zwang meiner Eigenansprüche! Vor einem Konzert übe ich täglich rund sechs Stunden, dazwischen erhole ich mich am Besten im Grünen: bei der Arbeit im Garten und beim Wandern, was ich mir fast jeden Tag  gönne. Zum Glück gibt es in meiner Umgebung ein Netz von gut unterhaltenen Wanderwegen. Am liebsten mache ich den ersten Schritt vor meiner Haustüre, anstatt die freie Zeit eingesperrt in einem fahrbaren Untersatz zu verschwenden. Eine Autoreise wäre für mich ein Horror.

Und beim Gehen studieren Sie der Musik nach, die Sie gerade beschäftigt?
Das könnte ich, mein Gehirn hat die Töne gespeichert. Aber ich versuche das Gegenteil: Ich geniesse die Stille, sie ist wie Samt für mein Gehör. Jede Musik entsteht aus der Stille. Ich geniesse auch den Gesang der Vögel, der mir vorkommt wie ein Orchester mit vielen unterschiedlichen Klangfarben und Tonhöhen.

Können sie denn die einzelnen Stimmen zuordnen?
Gerade jetzt hört man die kurzen Strophen einer Singdrossel, den lauten Triller des Zaunkönigs, die zarte Melodie eines Rotkehlchens. Und natürlich viele Buchfinken. Wo wir wohnen am Waldrand hört man auch eine Nachtigall und den selten gewordenen Kuckuck. Das berührt mich sehr. Unter unserem Dach nisten Bachstelzen und Hausrotschwänze, hinter dem Haus Trauerschnäpper.

Woher kennen Sie die Vögel so gut?
Von meinem Vater, der mich als begeisterter Bergwanderer immer mitnahm und mir dabei nicht nur die Namen der Gipfel beibrachte. In den Sommerferien verbrachten wir viel Zeit mit dem Sammeln und Bestimmen von Pflanzen.

Davon profitiert Rosemarie Burri noch heute: Am Mühlibach pflückt sie Bärlauchblätter als Füllung für ihre selbstgemachten Ravioli, später Holunderblüten für Sirup, dann Minze für ihre Wasserflasche auf der Wiese vor der Grabenöli. Einsam steht das rund vierhundertjährige Hochstudhaus mit dem mächtigem Dach auf einer Waldlichtung. 1919 stillgelegt und 1988 restauriert, wird die denkmalgeschützte Mühle seit dreissig Jahren von Idealisten betrieben. Die imposanten hölzernen Räder und Wellen produzieren mit Getöse ein begehrtes Baumnussö oder -mehl. An bestimmten Wochenenden darf man dabei zusehen, am Vergnüglichsten beim Jubiläumsfest des Mühlevereins im kommenden September. Aber noch können wir die Idylle allein geniessen.

Was für ein zauberhafter Ort für ein Gespräch!
Mein Mann und ich verbinden gerne Wanderungen mit kulturellen Erlebnissen: eine Kirche, ein Schloss oder ein schönes altes Bauernhaus. Daran mangelt es nicht in dieser Gegend. Als Stadtbernerin habe ich sie entdeckt, als ich in ein Stöckli zog, wo ich dank der Schwerhörigkeit meiner Vermieterin stundenlang üben konnte. Seither bin ich sehr verwurzelt im Buechiberg. Ich streife fast täglich durch die Wälder oder Felder dieser intakten Bauernlandschaft, geniesse von den Hügelkuppen die Ausblicke auf den Jura und die Ebene der Aare. Und von hier ist es nicht weit nach Biel, wo ich im Gymer Klavier unterrichtet habe, mit viel Herzblut.

Auch bei ihrer Konzertgestaltung denken sie an junge Menschen.
Das ist dringend nötig bei der Ueberalterung des Publikums in klassischen Konzerten: ein Meer von weissen oder grauen Köpfen! Dabei sind gerade Kinder durchaus empfänglich für anspruchsvolle Musik, man muss sie nur unterhaltsam bringen. Wie zum Beispiel in unserem letzten Programm zusammen mit einem Zauberer, der die Noten verwandelte. Auch der Zyklus zu Adolf Wölfli, bei dem ich mitwirkte, sprach mit der Verbindung von Bild, Text, Musik und Tanz ein neues Publikum an.

Nehmen Sie eigentlich beim Spielen die Reaktion der Zuhörenden wahr?
Sehr! Ich spüre genau, ob sie mich wirklich hören oder nur brav stillsitzen. Ein wunderbares Publikum sind übrigens die sogenannt behinderten Menschen: Sie reagieren sehr emotional, sogar körperlich auf meine Musik. Für diese Art von Sternstunden werde ich dranbleiben, so lange meine Hände mitmachen.

Inzwischen haben wir vor dem Dorf Lüterswil den Wald verlassen. Von da gehts weiter durch Felder und im Baumschatten über den sogenannten Hubel zum Forsthaus. Dann folgt der Abstieg nach Biezwil oder etwas weiter nach Schnottwil mit Gasthöfen und Postautoverbindungen. Ich zücke das Handy, um die beste Route zu finden und frage meine Begleiterin:

Nutzen Sie auch digitale Karten, um sich ausserhalb einer vertrauten Gegend zu orientieren?
Ich finde das zwar praktisch, aber ich liebe unsere guten gedruckten Landkarten. Wir besitzen viele Fünfzigtausender-Blätter der Schweiz und zahlreiche 1:25’000 unserer Umgebung. Wenn ich sie in Vorbereitung einer grösseren Wanderung ausbreite, sehe ich die Landschaft vor mir mit ihren Höhen und Tiefen und kann mich darauf freuen.

Sie wandern seit über einem halben Jahrhundert. Hat sich dabei etwas verändert?
Mein Tempo wird natürlich langsamer, das Ziel bescheidener. Aber das ist auch ein Gewinn: Ich lebe mehr im Moment, gehe bewusster um mit der kürzer werdenden Zeit. In der Stille achte ich auf die kleinen Veränderungen der Natur im Lauf der Jahreszeiten: das Aufbrechen der Knospen, die unterschiedlichen Formen der Blätter, ihre Verfärbung im Herbst. Damit wird jede auch noch so kleine Wanderung zum Geschenk, das mein Leben mir macht.

Marie-Louise Zimmermann, erschienen in «wandern.ch» vom August 2018