PUSCHLAV/VELTLIN

Goldene Tage in den Südalpen


Herbstschönheit am Lago di Saoseo(Bild: zvg)

Eine spektakuläre Bahnstrecke, aussichtsreiche Wanderrouten und attraktive Nostalgiehotels locken nach Südbünden und ins angrenzende Italien: am Schönsten im Herbst, wenn die Lärchenwälder und Rebberge golden leuchten.

Diesmal sollte man wirklich das Auto zu Hause lassen und die Bahnfahrt geniessen: Die Strecke über Albula und Bernina wurde nicht umsonst als Unesco Weltkulturerbe ausgezeichnet! Massen von Touristen nutzen die Rhätische Bahn oder die Passstrasse, meist an einem Tag hin- und zurück. Intensiver erlebt man aber die Vielfalt der Landschaft zwischen Gletscherseen und Kastanienwälder zu Fuss. Die 1700 Höhenmeter lassen sich dank Bahn oder Postauto und zahlreichen Unterkünften individuell aufteilen und allzu steile Abschnitte vermeiden.

Zwei Talrouten
Zum Einlaufen könnte man am Anreisetag den Zug an der Station Lagalp verlassen und durch die karge Felslandschaft des einsamen Val Minor zum Bernina Hospiz hochsteigen, wo die Bergseen im Abendlicht glänzen. Dann hat man die Wahl zwischen zwei Routen: Am spektakulärsten und entsprechend viel begangen ist die Via Panoramica auf der rechten Talseite nahe am kühnen Bahntrassee. Auf der Via Storica am gegenüberliegenden Hang dagegen hat man die gut ausgebauten Wege für sich.

Rechtsseitig öffnet sich nach dem Abstieg auf die Alp Grüm der Blick talaus bis zum fernen Lago di Poschiavo und bergwärts zum Piz Palü mit seinem schwindenden Eisstrom. Bei der Bahnstation Cavaglia auf der nächst unteren Talstufe informiert eine gut gemachte Ausstellung über die Problematik unserer Gletscher. Und nicht verpassen sollte man daneben die eindrücklichen Gletschermühlen, die neu mit viel Freiwilligenarbeit vom Schutt befreit wurden (Eintritt frei).

Durch Lärchen- und Fichtenwald geht es dann direkt hinunter nach Poschiavo, schöner aber über die idyllische Alp Selva. Neben einander stehen hier eine katholische und eine protestantische Kapelle, Zeugen historischer Konfessionszwiste im Bündnerland.


Markt auf der Piazza von Poschiavo (Bild: mlz)

Schmuckes Poschiavo

Der Hauptort Poschiavo, 2008 durch eine Ueberschwemmung verwüstet, präsentiert sich heute schmucker als zuvor. In vergangenen Jahrhunderten haben sich hier die durch Wein- und Salzhandel reich gewordenen führenden Familien ihre Palazzi gebaut. Andere machten als Zuckerbäcker in Frankreich oder Spanien ihr Geld und investierten es in eine Reihe klassizistischer Villen am Stadtrand. Wie die Oberen und die Unteren einst lebten, lässt sich nachvollziehen in den zwei Häusern des Talmuseums. Und wie man die Wasserkraft nutzte, demonstrieren die alte Mühle, Säge und Schmiede im nahen Aino.

Auf dem verkehrsfreien Hauptplatz stillt man den Wanderhunger mit handfesten Pizzocheri und begiesst sie mit dem Wein aus dem nahen Veltlin. Edel und trotzdem erschwinglich wohnt man im traditionsreichen Albergo Albrici, von der Besitzerfamilie liebevoll renoviert.

Alte Saumwege

Eine historische Unterkunft gibt es auch an der Via Storica in La Rösa: In der sanft restaurierten Stazione Posta schläft man in Grossmutterzimmern, badet in einer Kupferwanne und isst bei Kerzenlicht regionale Kost. Der „schlichte Luxus“ hat aber seinen Preis und ist nur ab drei Nächten buchbar.

Von hier führt der Saumweg steil hinunter nach Sfazu, dann bequem über den Weiler Splüga ins Tal. Ab Pedemont erspart das Postauto die heisse Asphaltstrecke. Von Poschiavo nach Tirano wandert man am lohnendsten auf alten Schmugglerpfaden: Mit Uebernachtung im hochgelegenen Wallfahrtsort San Romerio oder in einem Tag ab dem einstigen Schmugglerdorf Viano (Postauto). Fast senkrecht ist der Abstieg durch die Rebberge nach Italien, doch der Tiefblick lässt die Kniestrapazen vergessen (oder: In Tirano ein Taxi bestellen).

Lohnende Geheimtipps

Die meisten Touristen bleiben in Tirano beim Bahnhof und verpassen damit die sehenswerte Altstadt mit Resten der Stadtbefestigung und bröckelnden Patrizierhäuser in engen Gassen. Im riesigen Palazzo Salis bewundert man die gemalte Architektur und im privaten Palazzo Lambertenghi wohnt man wie die Fürsten zu B&B-Preisen. Nun könnte man noch im Bus ins obere Veltlin fahren. Doch viel lohnender erreicht man den Wintersportort Bormio mit dem überraschend schönen alten Dorfkern zu Fuss. Dazu wandert man von La Rösa oder Sfazu aus (Postauto) dem Südhang entlang durchs Val da Camp.

Das kaum bewohnte Bergtal ist Idylle pur mit seinem Märchenwald, den Moorseelein und zuhinterst dem fast unwirklich grünblauen Lago di Saoseo. Von einem Geheimtipp kann man allerdings an einem Wochenende nicht reden! Deshalb übernachtet man besser an einem Werktag im gemütlichen Rifugio, um nachher über den Passo di Viola in zwei Tagen nach Bormio zu wandern, ab Arnoga allerdings auf einem Fahrsträsschen.

Gäste der am Berghang über Bormio gelegenen historischen Thermen können sich auch einen Abholdienst bestellen. In den labyrinthischen Bagni Vecchi watet man dann durch einen Tunnel bis zur heissen Quelle im Bern oder dümpelt im Aussenbecken mit Bergsicht, während man in den Bagni Nuovi im Luxus der Belle Epoque die wandermüden Muskeln aufpäppeln kann.

GUT ZU WISSEN

Anreise:
Zug Bern-Zürich-Chur-Samedan-Pontresina-Berninapass.

Rückreiseoptionen:
1) Zug Tirano-Chiavenna-Postauto Lugano (reservieren!)-Zug Bern.
2) Zug Tirano-Colico-Schiff Menaggio-Postauto (reservieren!) Lugano-Zug Bern.
3) Postauto Poschiavo-Livigno-Zernez-Zug Sagliains-Landquart-Chur-Bern.
4) Pullmanbus Tirano-Bormio-Stilfserjoch (nur bis 8.9)-Postauto Umbrail-Sta. Maria-Ofenpass-Zernez-Zug Sagliains-Landquart-Chur-Bern.

Unterkunft:
z.B. in Ospizio Bernina, Alp Grüm, Selva, La Rösa, Sfazu, Poschiavo, San Romerio, Tirano, Saoseo, Viola, Arnoga, Bormio, Stelvio, Sta. Maria.

Karten:
LK 1:50’000 Bl. 469T Poschiavo; “Kompass” 1:50’000 Bl. Bormio.

Führer:
Corina Lanfranchi: „Das Puschlav“ (Rotpunkt Verlag) mit genauen Wanderrouten sowie viel historischer, kultureller und kulinarischer Information. Ideal zur Vorbereitung!

MARIE-LOUISE ZIMMERMANN
(erschienen in der Berner Zeitung vom 21.9.2012)

Siehe auch «Mit historischem Flair».