Schon lange als Kandidatin gehandelt, erhielt Alice Munro gestern den Nobelpreis für Literatur zugesprochen. Das freut nicht nur die Frauen: Die 82jährige Kanadierin wird weltweit bewundert als meisterhafte und zutiefst menschliche Erzählerin. Ihre Kurzgeschichten enthalten mehr Welt als mancher Roman.
Spontane Reaktionen auf die Verleihung des Nobelpreises für Literatur zeugten in den letzten Jahren oft von Ratlosigkeit: „Wer soll das sein? Nie gehörter Name!“ Oder gar Protest: „Das darf doch nicht wahr sein. Da gäbe es so viel bessere!“ Und man spekulierte, welche politischen Erwägungen wohl über literarische Qualitätsansprüche gesiegt hatten. Diesmal aber war man sich weitherum einig: „Alice Monro? Endlich!“
Lange galt die 82jährige kanadische Autorin als Geheimtipp. Seit ihrer Jugend schrieb sie Kurzgeschichten, doch sie musste fast vierzig Jahre alt werden, bis sie eine erste Auswahl als Buch publizieren konnte. „Die Literaturkritik betrachtet Erzählungen noch immer als mindere Disziplin, und ich habe das selber lange geglaubt“, sagte Alice Munroe in einem ihrer seltenen Interviews. „Was habe ich mich gequält beim Versuch, einen Roman zu schreiben! Bis ich endlich realisierte, dass die kurze Form mir entspricht.“
In den letzten Jahren häuften sich dann die internationalen Auszeichnungen bis zum Man- Booker-Preis von 2009, und schon lange wurde Alice Munro als Anwärterin auf den Nobelpreis gehandelt.
Unsentimentale Distanz
Spuren ihres Lebens finden sich vor allem im ersten ihrer vierzehn Erzählbände, „Dance of the Happy Shades“ von 1968 (dt. „Tanz der seligen Geister“) und in „The View from Castle Rock“ von 2006 (dt. „Wozu wollen Sie das wissen“: Alice Monroe wurde 1931 als älteste von drei Geschwistern in der kanadischen Provinz Ontario geboren, wo sie auch heute wieder lebt. Ihre Mutter war Lehrerin, erkrankte aber früh an einem unheilbaren Leiden. Ihr Vater schlug sich mühsam durch mit einer Silberfuchsfarm.
Seither gilt das Interesse der Erzählerin den kleinen Leuten im ärmlichen Hinterland, vor allem den Frauen: den unsicheren Mädchen, abgekämpften Müttern, zähen Alten. Sie alle träumen von einem anderen Leben, verbergen aber ihre heftigen Gefühle mit unauffälliger Selbstdisziplin. Und erfahren doch manchmal in ihrem grauen Alltag Momente reinen Glücks. Es sind einprägsame Sozialporträts, geschrieben mit spürbarer Anteilnahme und präziser Einfühlung, doch aus unsentimentaler Distanz.
Meisterhafte Knappheit
In Alice Munroes scheinbar schlichten, in Wahrheit höchst raffiniert komponierten Geschichten scheint jedes Wort bewusst gewählt und keines ist zu viel. Das Wichtigste geschieht in den Leerstellen. Diese oft mit Tschechow verglichene Autorin ist eine Meisterin der Verknappung. Ihre Erzählungen erinnern an das unvollendete Gemälde eines Renaissancemeisters, der den Grossteil seiner figurenreichen Szenen bloss skizziert hat, die entscheidenden aber detailgenau ausgemalt. So erfassen wenige Seiten ein ganzes Menschenleben, konzentriert auf schicksalhafte Momente, die ganz unspektakulär sein können.
Grosse Ereignisse dagegen finden oft in wenigen Sätzen statt. Da geht etwa eine Frau nach einem Tennismatch pfeifend ins Haus, um ihrem Ehemann von ihrem Sieg zu erzählen. „Aber während ihrer Abwesenheit war Lewis gestorben. Er hatte sich nämlich umgebracht.“ Dass der ehemalige Biologielehrer statt eines Abschiedsbriefs bloss eine weitere Tirade gegen die Evolutionsleugner hinterlassen hat, charakterisiert ihr ganzes gemeinsames Leben. Die Kurzgeschichte ist ein Roman in einer Nussschale.
Sie stammt aus „Hateship, Friendship, Courtship, Loveship, Marriage“ (dt. “Himmel und Hölle”) von 2001, einem der besten Sammelbände von Alice Munro. Später werden ihre Geschichten länger, reicher ausgearbeitet und damit weniger konzentriert, zugleich dunkler. Es gibt darin jenseits der Lebensmitte viel Krankheit, Resignation, Einsamkeit und Tod, aber auch stille Tapferkeit. Und denselben unauffälligen Glanz der Sprache, der auch in den deutschen Uebersetzungen aufscheint.
Gemischte Freude
Letzten Sommer erklärte Alice Munro gegenüber einer kanadischen Zeitung, sie werde wohl kein weiteres Buch veröffentlichen. „Ich habe nicht aufgehört, das Schreiben zu lieben, aber ich bin jetzt in einem Alter, wo man an anderes denkt im Leben.“
Als sie von ihrer Tochter am Telefon erfuhr, dass sie den Nobelpreis erhalten sollte, „habe ich mich zuerst grenzenlos gefreut, dann furchtbar erschrocken, was da auf mich zukommen würde.“ Doch begrüsse sie die sicher positiven Auswirkungen auf die Literaturszene ihres Landes „Und seit ich weiss, dass unter den über hundert bisherigen Preisträgern bloss dreizehn Frauen sind, macht mich diese Ehrung glücklich: für uns als Frauen.“
Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in der Berner Zeitung vom 11.10.2013)