Der bekannte deutsche Strafverteidiger Ferdinand von Schirach erzählt in seinem brillanten ersten Roman «Der Fall Collini» mehr als eine spannende Kriminalgeschichte: Er stellt Fragen nach dem Umgang der deutschen Justiz mit der Nazivergangenheit und nach dem Recht der Opfer auf Sühne.
Ferdinand von Schirachs erstes Buch war der grösste literarische Überraschungserfolg der letz-ten Jahre: «Verbrechen», eine Sammlung von Kurzgeschichten, stand 2009 ein Jahr lang auf den Bestsellerlisten und wurde mit dem Kleist-Preis ausgezeichnet. Der prominente Strafverteidiger beschreibt darin, verfremdet und verdichtet, Fälle von Kapitalverbrechen aus seiner Berliner Kanzlei, meist begangen von bis dahin unauffälligen Menschen. «Mich interessieren nur Morde, zu denen jeder fähig wäre, auch ich selber», meinte von Schirach in einem Interview.
Ein Jahr später wiederholte er den internationalen Grosserfolg mit dem ebenso realitätsbezogenen Erzählband «Schuld». Aus seiner langen Berufserfahrung weiss der 47-Jährige: «Schuld spielt eine wichtige Rolle in unserem Strafrecht. Sie muss innerhalb der Lebensgeschichte eines Menschen gewogen und entsprechend bestraft werden.»
Persönliche Betroffenheit
In von Schirachs erstem Roman «Der Fall Collini» macht genau dieser hohe Anspruch dem Pflichtverteidiger Caspar Leinen zu schaffen. Denn sein Mandant hat zwar den Mord gestanden, doch auf Fragen nach dem Motiv schweigt er beharrlich. Fabrizio Collini, ein gut sechzigjähriger, unbescholtener italienischer Gastarbeiter, hat den greisen deutschen Grossindustriellen Hans Meyer mit Kopfschüssen getötet. Dass er danach auf dessen Gesicht herumgetrampelt ist, deutet auf einen Racheakt.
Noch schwieriger wird es für den jungen Anwalt, als er erfährt, dass das Opfer der Grossvater seines Jugendfreundes ist, dessen Schwester er immer noch liebt. Viele Sommer hat er in der Brandenburger Villa des liebenswürdigen alten Herrn Meyer verbracht, der ihn wie einen eigenen Enkel behandelte. Kurz vor Prozessbeginn führt dann ein Foto auf die Spur einer Gräueltat des ehemaligen SS-Sturmbannführers Hans Meyer, die Collinis Vater das Leben kostete. Den Fall hat in den Sechzigerjahren zwar ein deutscher Staatsanwalt untersucht, jedoch ohne Konsequenzen.
Nun ist alles anders: Im Mordprozess Collini wird das Opfer zum Angeklagten, und vor Gericht steht auf einmal die deutsche Nachkriegsjustiz: Sie machte Verbrecher zu blossen Befehlsempfängern, und 1968 veranlasste ein ehemaliger Nazirichter als Justizminister eine Gesetzesänderung, welche blosse Gehilfenschaft verjähren lässt. All das kommt ausführlich zu Wort im Gerichtssaal, wo rund die Hälfte des Romans spielt.
Souveräne Erzählkunst
Dass trotz der vielen juristischen Überlegungen die Spannung nie nachlässt, liegt an der Erzählkunst des souveränen Autors: Ohne ein überflüssiges Wort treibt er die Handlung voran, erklärt komplizierte Sachverhalte glasklar und macht in knappen Sätzen jede noch so nebensächliche Figur glaubhaft lebendig. Denn: «Es geht nicht um Paragrafen, es geht um den geschundenen Menschen», erkennt sein Alter Ego Caspar Leinen.
Es geht aber auch um die Frage, wie der Zeitgeist die Rechtsprechung beeinflusst. Mit dieser Problematik musste sich Ferdinand von Schirach auseinander setzen, als er 1995 den Politiker Günter Schabowski verteidigte im Politbüroprozess gegen die ehemalige DDR-Führung. «Ich fand das ungeheuer spannend», erinnert er sich in einem Fernsehinterview. «Wann steht schon ein untergegangener Staat vor Gericht? Und es war der grösste Prozess der deutschen Justizgeschichte seit Nürnberg.»
In dieser Stadt wurde fünfzig Jahre zuvor sein Grossvater als Kriegsverbrecher verurteilt: Hitlers Jugendreichsführer Baldur von Schirach, der als Gauleiter in Wien Abertausende Juden in den Tod getrieben hatte. Nicht zufällig verfolgt sein Enkel die Frage nach der Berechtigung von Rache.
Doch Ferdinand von Schirach hat kein Problem mit seinem belasteten Adelsnamen: «Ich glaube nicht an die Vererbbarkeit von Schuld. Aber ich glaube an die Verantwortung der Nachkommen, diese Schuld nicht vergessen zu lassen.»
Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in der Berner Zeitung vom 1.9.2011)