Gerhard Meier mag nicht mehr über sich reden. Obwohl der grosse Schweizer Dichter zum 90. Geburtstag gefeiert wird? «Dann kommen Sie halt zum Tee», sagte er. Und entfaltete seine erdichtete Welt.
Amrain meine ich aus den Büchern von Gerhard Meier zu kennen, als wäre ich dort aufgewachsen. An Niederbipp aber bin ich bisher nur vorbeigefahren. Doch dieses Dorf, wo der grosse Doyen der Schweizer Literatur seit bald neunzig Jahren wohnt, hat ihm als Vorbild gedient. In seinem Roman mit dem schönen Titel «Land der Winde» schreibt er: «Er habe gefühlt, dass das nun das Zentrum der Welt sein müsse: Amrain.»
Wie viel davon ist wohl in Niederbipp zu finden? Und wie wird die Begegnung sein mit dem scheuen Dichter? Gerhard Meier gibt schon lange keine Interviews mehr. Doch auf meinen Brief hin hat er mich zu einer Tasse Tee eingeladen.
Wo ist Amrain?
Als ich aus dem Zug steige, hangen die Wolken tief über dem Jura. Schwere Tropfen fallen aus dem Kastanienbaum beim Stationsgebäude, der auch in Amrain steht. Und wie dort verwandelt der Wind die Leitungsdrähte in Harfen. Doch wo sind all die alten Gebäude? Die kaisergelbe Giebelfassade? Das Gasthaus, in dem die Leichenmahle stattfanden? Da ist bloss eine Durchschnitts-Ortschaft des Schweizer Mittellandes, ein verstädtertes Bauerndorf. Wo finde ich den berühmtesten Niederbipper?
Gerhard Meier wohnt am Gerhard-Meier-Weg. 1997 hat ihn seine Heimatgemeinde zum Ehrenbürger gemacht und ein Strassenstück nach ihm benannt. Doch auf dem Ortsplan ist dieses nicht zu finden, und von den Passanten kennt niemand den Namen. Auch nicht die Achtklässlerinnen auf dem Schulhausplatz.
Ein Buch über nichts
Der dazu getretene Lehrer schliesslich kann den Weg weisen. Nein, lesen würde er im Unterricht Gerhard Meier nicht, obwohl er ihn sehr schätze: «Für junge Leute gibt es darin zu wenig Action.» Nicht zufällig steht ein Satz von Gustave Flaubert über der Amrainer Tetralogie: «Was ich machen möchte, ist ein Buch über nichts.» Doch dieses Nichts enthält Bilder, die für immer an den Wänden der Seele hangen. Das sagt Meier über seine Erinnerungen in seinem ersten Roman «Toteninsel».
Wenn er durch sein Dorf gehe, komme es ihm manchmal vor, als schritte er durch seine Texte, schreibt er in seinem letzten Werk «Ob wohl die Granatbäume blühen». Mir geht es ähnlich, als ich endlich das steile Ziegeldach des fast vierhundertjährigen Bauernhauses erblicke, wo Gerhard Meier geboren wurde und seit sechzig Jahren lebt: «Da steht im Apfelgarten ein Pferd so ruhig nach Osten ausgerichtet, als ob es meditieren würde.» Daneben breitet sich wohl die Matte des Eierhändlers, auch wenn sie jetzt ein Getreidefeld ist, ohne goldenen Hahnenfuss.
Im Verborgenen leben
Der berühmte alte Mann empfängt mich mit exquisiter Liebenswürdigkeit. Er scherzt über seine Adresse: Das sei doch unvorsichtig, auf diese Weise einen Lebenden zu ehren, von dem man nie wisse, was der noch alles anstelle könne! Er erzählt von seinem Anruf beim Notarzt: «Als ich sagte, hier sei Gerhard Meier am Gerhard Meier-Weg 17, wurde mir gesagt, ich solle mich beruhigen, und aufgehängt!»
Dass ihn die wenigsten Mitbürger kennen, stört ihn nicht, im Gegenteil: «Im Verborgenen zu leben, ist das Privileg der grossen Freiheit. Und schreiben kann ich ohnehin nur in absoluter Stille.» Auch meine beharrliche Suche nach Amrain lässt den Autor lächeln: «Ich bin doch kein Dorfchronist! Die Bilder, die Klänge und die Gerüche, die ich beschreibe, stammen vor allem aus meiner Kindheit.» In seinem Roman «Die Ballade vom Schneien» steht: «Ich fragte mich, ob man am Ende lebe, um sich eben erinnern zu können.»
Aber er verfasse keine Autobiografie: «Was ich sehe und erlebe, denke und fühle, ist nur Material. Ich beobachte zwar alles ganz genau, aber dann verwebe ich es frei, wie zu einem Teppich mit wiederkehrenden Mustern.» Ein solcher Teppich ist für ihn auch Amrain: «Die Motive sind die Geschlechter, die Sippen. Die Zettel sind der Landstrich, die Zeit», heisst es in der «Toteninsel».
Alles ist Wiederholung
Seine Wiederholungen hat man ihm gelegentlich vorgeworfen. Dagegen wehrt sich der Autor temperamentvoll: «In unserem Leben wiederholt sich doch alles ständig: wachen und schlafen, Hunger haben und satt sein. Die Jahreszeiten, die ganze Schöpfung sind ein einziger Kreislauf.» Als Schreibender bleibe man dabei immer ein Zuschauer am Rand und riskiere damit, das Leben zu verpassen. Doch nur so könne man sich ein Stück kindlicher Naivität bewahren, ohne die es keine Kreation gebe.
Gemütlich ist es am Teetisch, wo ein Blumenstrauss aus dem Garten duftet und eine Linzertorte, von einer Tochter gebacken. An der Wand hangen kolorierte Stiche von Gräsern – wie in der getäferten Amrainer Wohnstube, wo Meiers alter ego Kaspar Baur lange Gespräche mit dem Freund Bindschädler führt. Entstanden sind die Bücher alle im kleinen Zimmer im Erdgeschoss, zu dem ich nun über die hölzerne Aussentreppe geführt werde. «Jeden Satz habe ich erst von Hand geschrieben und dabei laut gesagt. Nur so fliesst die Sprache, kann zur Melodie werden», erklärt der Dichter.
An der Wand hinter dem Schreibtisch steht das gute Dutzend seiner Bücher, die ihm ein halbes Dutzend wichtiger Literaturpreise eingetragen haben. Dankbar spricht er über den Zytglogge Verlag, der als erster seine Prosatexte verlegt und dafür gesorgt hat, dass sie greifbar blieben, obwohl das kaum ein grosses Geschäft gewesen sei.
Die grossen alten Bücher
Im Gestell daneben sind die Autoren versammelt, die ihm ein Leben lang etwas bedeutet haben und die oft in seinen Romanen vorkommen. «Ich kenne nicht viele Bücher», gesteht Gerhard Meier, «eigentlich nur solche, die auf mich gewartet haben oder auf die ich gewartet habe.» Robert Walser und Adalbert Stifter liebt er sehr: «In der älteren Literatur kommt mir die Sprache irgendwie nobler vor.» Aber auch Joseph Roth ist ihm wichtig, Claude Simon und Virginia Woolf. Und vor allem: Alle fast dreitausend Seiten von Marcel Proust habe er viermal gelesen, dazu Tolstojs «Krieg und Frieden» immer wieder im Herbst, wenn die Blätter fielen.
Tolstoj. Dessen Gedicht «Wie viel Erde braucht der Mensch» sei in der Schule sein erstes Literaturerlebnis gewesen. Freimütig erzählt Meier aus seinem Leben, mit spürbarer Emotion – und selbstironischer Bescheidenheit. In seinem Elternhaus habe es keine Bücher gegeben, nicht einmal die Bibel, in der er später so gerne las. Auch Geschichten wurden nicht erzählt. Seine aus Rügen stammende Mutter habe ein grausliches Gemisch von Plattdeutsch und Schweizer Dialekt gesprochen.
Später Aufbruch
Und doch begann er schon mit zehn Jahren, Gedichte zu verfassen. Fast entschuldigt er sich dafür: «Nicht zum Zeitvertreib! Wenn man als Schreiber geboren wird, dann muss man einfach schreiben, das ist ein Segen und ein Fluch zugleich.» Trotzdem zwang er sich, damit aufzuhören, als er nach einem abgebrochenen Hochbaustudium jung heiratete. Stattdessen liess er sich dreiundreissig Jahre lang in der benachbarten Lampenfabrik anstellen: erst als Arbeiter, dann als Designer und Mitglied der Geschäftsleitung.
Erst während eines Aufenthaltes in einem Lungensanatorium hatte er wieder Gedichte geschrieben und auch veröffentlicht. Doch der grosse Schritt gelang erst mit 54 Jahren, als er aus berechtigter Frustration in der Fabrik kündigte und seine Frau Dorli Arbeit in einem Kiosk annahm, um ihm das Schreiben zu ermöglichen. «Dann konnte ich endlich zu Papier bringen, was in all den Jahren in mir gewachsen ist», sagt Gerhard Meier sichtlich bewegt. «Das mag jetzt vollmundig klingen, aber ich habe meine Bücher nicht geplant, sie wurden mir geschenkt.»
Sechzig Jahre dauerte Gerhard Meiers glückliche Ehe, und noch immer stehen die Gartenschuhe seiner verstorbenen Frau unter dem Vordach. Warum denn hat er, ausser im allerletzten Werk, kaum je über sie geschrieben, auch nicht über seine drei in kreativen Berufen erfolgreichen Kinder? «Wenn mich etwas ganz tief berührt, dann verschlägt es mir die Sprache», erklärt der Autor. «Das ist wie bei einem verliebten Jüngling, der vor seiner Angebeteten kein Wort herausbringt.» Es sei dieselbe Scheu, aus sich heraus zu treten, die ihn «man» statt «ich» habe schreiben lasse und gerne den Konjunktiv der indirekten Rede verwenden.
Lob der Mütter
Doch natürlich ist ihm seine Familie wichtig, und er freut sich trotz gesundheitlicher Beschwerden auf das grosse Sippenfest zu seinem neunzigsten Geburtstag am 20. Juni, vor allem auf die Ururenkel: «Sind Kinder nicht etwas ganz Wunderbares? Dass die Welt nicht total kaputt ist, verdanken wir doch ihnen! Und einigen Müttern und Grossmüttern.»
Mit diesem Satz als Abschiedsgeschenk gehe ich im Regen zum Bahnhof. Eigentlich hatte ich auf einen lauen Maiabend gehofft, wo sich der Grosse Bär auf der Jurahöhe lagern würde und vielleicht sogar der gläserne Klang aus dem Sternbild der Jagdhunde zu vernehmen wäre, der in Amrain durch die Nächte weht. Doch die Welt existiert eben nur, wenn sie in Sprache gefasst ist, wie Gerhard Meier sagt. In Niederbipp braucht man sein Amrain nicht zu suchen. Wer dorthin will, muss seine Bücher lesen.
Marie-Louise Zimmermann
(Erschienen in der Berner Zeitung vom 26.5.2007)