Der Roman „Die Lebenden reparieren“ der französischen Autorin Maylis de Kerangal beschreibt das Drama einer Organverpflanzung: präzise, sprachgewaltig, berührend.
Simon sieht aus, als ob er schlafen würde. Doch der Neunzehnjährige ist tot, hirntot. In die Windschutzscheibe gekracht bei einem Autounfall auf der Rückfahrt vom Surfen in der Bucht von Le Havre. Die Eltern an seinem Spitalbett ringen sich die Einwilligung ab, ihren einzigen Sohn freizugeben für die Entnahme dringend benötigter Organe.
Nun startet ein Wettlauf gegen die Zeit nach genau eingespieltem Prozedere: Der Stationsarzt informiert die nationale Organdatenbank, welche die Empfänger von Herz, Lunge, Leber, Nieren bestimmt und die entsprechenden Spezialistenteams aufbietet. Verfolgt wird der Weg von Simons Herz, bis es in einem andern Körper zu schlagen beginnt.
Minutiöses Protokoll
Der zweite Roman von Maylis de Kerangal (1967) erzählt den letzten Tag im Leben eines sympathischen jungen Mannes und die 24 Stunden nach seinem Tod: in minutiös recherchiertem, oft brutalem Detail. Neben den medizinischen, rechtlichen und ethischen Fragen um die Organverpflanzung interessiert sie vor allem das emotionale Drama:
Abwechselnd erlebt man es aus der Perspektive aller Beteiligten, porträtiert in wenigen präzisen Strichen, ohne die Rasanz des Protokolls zu bremsen. So identifiziert man sich zwingend mit den Eltern und der Freundin des Toten oder mit der schwer herzkranken Mutter, die eine neue Lebenschance erhalten soll.
Greifbar lebendig als prägnante Charaktere werden auch die operierenden Aerztinnen und Aerzte, die übernächtigte Krankenschwester, der für die psychologische Betreuung zuständige Pfleger. In dessen Büro hängt ein Zitat des Dramatikers Anton Tschechow über seine Aufgabe als Arzt: „Die Toten begraben und die Lebenden reparieren“.
Nicht weniger bewundernswert ist die in der Uebersetzung erhaltene Virtuosität der bis in klinische Details poetischen Sprache. Kein Wunder, hat das Buch in Frankreich sieben literarische Preise bekommen.
Suhrkamp Verlag, übersetzt von Andrea Spingler, 255 S.
Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in der Berner Zeitung vom 20.7.2015)