Selbstbewusst tragen die modernen jungen Indígenas ihre traditionelle Tracht.
Das Städtchen Otavalo in den Anden Ecuadors ist berühmt für seinen Handwerksmarkt. Die dortigen Indios haben es in relativ kurzer Zeit von der Leibeigenschaft zu Wohlstand und Ansehen gebracht. Stolz halten sie sich für direkte Nachfahren der Inka – was allerdings zu beweisen wäre.
Das Andenstädtchen Otavalo, nördlich von Quito gelegen, wird jeden Samstag zu einem Fest der Farben: An Tausenden Ständen türmen sich bunt gewobene Decken, Ponchos, Taschen oder Strickpullover. Zwischen dicht gehängten Bildteppichen findet man Halsketten, Panamahüte, Musikinstrumente, Schnitzereien, Keramik und unzählige weitere Produkte für den Massentourismus. Dominiert wird dieser wahrscheinlich grösste Handwerksmarkt Südamerikas von den Indígenas (kurz für „gente indigena“, eingeborene Leuten). Diese machen zwar nur einen Viertel der Bevölkerung Ecuadors aus; in Otavalo aber stellen sie rund die Hälfte der rund 50 000 Einwohner.
Die Frauen tragen die traditionelle Tracht aus dunkelblauem Wickelrock und bestickter weisser Bluse. «Ein wenig erinnern sie mich an die Händlerinnen von Cusco», meint ein Reisegefährte. Vielleicht ist das kein Zufall. Die Indios von Otavalo halten sich nämlich für Nachfahren der Inka; sie haben Geschäfte oder Musikgruppen nach ihnen benannt und dem Inkageneral Rumiñahui ein Denkmal errichtet.
Ungesicherte Herkunft
«Purer Mythos», urteilt die amerikanische Anthropologin Lynn A. Meisch in ihren Publikationen. Unter den verhassten Spaniern habe man begonnen, sich nach den nicht weniger brutalen Inka zurückzusehnen. Das Gebiet von Ecuador gehörte bloss rund vierzig Jahre zu deren Grossreich, ehe Francisco Pizarro dieses mit der Ermordung des letzten Herrschers Atahualpa 1532 zerstörte.
Marco Andrade Echeverria, Forschungsleiter für Anthropologie an der Universität Otavalo, äussert sich differenzierter: «Genetische Studien gibt es leider nicht. Natürlich haben sich die erobernden Inka vermischt mit den Ureinwohnern, mit denen sie schon früher Handel getrieben hatten. Vor allem aber ermordeten oder deportierten sie rebellische Volksgruppen und ersetzten sie durch angepasste Menschen aus andern Reichsteilen.» Ihre wichtigste Hinterlassenschaft ist das Quitchua, Umgangssprache aller Indígenas und in vielen Ortsnamen präsent. Professor Andrade erwähnt auch die männliche oder weibliche Bezeichnung der nahen Vulkane als «Vater» Imbabura und «Mutter» Cotacachi: Das entspreche der dualistischen Weltanschauung der Inka. Und ihr Sonnengott werde beim grossen Junifest zugleich mit dem heiligen Johannes gefeiert.
Elende Vergangenheit
Uralt ist auch die hiesige Tradition der Weber, welche von den spanischen Kolonialherren in Zwangsarbeit ausgebeutet wurden. Nach der Unabhängigkeit Ecuadors von 1830 lebten die meisten Indios weiterhin elend als rechtlose Land- und Textilarbeiter. Erst 1964 wurde die faktische Leibeigenschaft abgeschafft und später ein Teil der grossen Haciendas verteilt. So besitzen heute viele Otavaleños ein Stück Land, das sie vorwiegend zum Eigenbedarf bebauen. Sie treffen sich samstags auf dem grossen Viehmarkt, wo neben Kühen, Schweinen, Schafen und Geflügel auch Meerschweinchen gehandelt werden – ein von den Inka eingeführter Festschmaus.
In nur einem halben Jahrhundert haben es viele Indígenas zu Wohlstand gebracht, aufbauend auf ihrer Textiltradition. Sie begannen als Händler in die angrenzenden Länder zu reisen, ab den 1970er Jahren dann auch in die USA und nach Europa. Etliche liessen sich dort nieder; nicht zufällig gibt es in Otavalo so viele Telefon- und Internetcafés. Die meisten Kaufleute aber fliegen als Touristen ins Ausland und setzen dort Kunsthandwerk oder Musikkassetten ab. Von ihrem Erfolg zeugen zu Hause unzählige halbfertige Betonvillen.
Die Daheimgebliebenen profitieren seit den 1980er Jahren vom Touristenboom – allerdings in ungleicher Verteilung: Noch gibt es Familien, die ihre Eigenproduktion verkaufen. Den grossen Gewinn jedoch machen die Händler. Ihnen gehören inzwischen Häuser, Hotels oder Restaurants, und ihre Kinder studieren im Ausland.
Stolze Identität
«Unser Erfolg bedeutet nicht, dass wir auch unsere Seele verkauft haben», betont Zulay Sarabino. Die fliessend Englisch sprechende Indígena vermittelt mit ihrer Reiseagentur authentische Einblicke in die reiche Kulturtradition der Gegend. «Vor etwa zwanzig Jahren hat das Umdenken begonnen», erinnert sie sich. Vorher sei «Indio» ein Schimpfwort gewesen. «Jetzt sind wir stolz auf unsere Identität.“ So tragen heute nicht nur Frauen und Greise, sondern auch etliche junge Männer die traditionelle Tracht aus dunklem Poncho über Hemd und Hose in makellosem Weiss, dazu Filzhut und Espadrilles.
Unabdingbares Erkennungszeichen der Männer ist ihr langer Zopf oder Rossschwanz. Er gefällt weissen Touristinnen so gut, dass nicht nur die Indios ihre Haare wachsen lassen. Das erzählt Mario Conejo, erster indigener Bürgermeister des 150 000 Einwohner zählenden Bezirks Otavalo. Und selbstironisch fährt er fort: «Als ich im Jahr 2000 gewählt wurde, sagten sogar die Indígenas, dazu sei doch ein Indio nicht fähig!» Seither hat der linksgerichtete Politiker einiges erreicht: Strassen und Wasserversorgung saniert, Abfalltrennung und Kompostierung eingeführt. «Was den Leuten weniger gefällt, sind die Steuern, die sie neuerdings bezahlen müssen», gibt der populäre Alcalde zu. «Doch jetzt haben wir endlich ein ausgeglichenes Budget.»
Sorgen macht ihm dagegen der überdimensionierte «Mercado de Artesanía» mit seiner zunehmend fragwürdigen Warenqualität. «Daran zu rütteln, wäre aber politischer Selbstmord!» Angehen will er jedoch die hohe Abhängigkeit vom ausländischen Tourismus. Deshalb plant er eine neue Markthalle für den einheimischen Handel und vor allem eine attraktive Infrastruktur für die zweieinhalb Millionen potenziellen Gäste aus der nahen Hauptstadt. Fürchtet er nicht, den indigenen Charme des Städtchens zu zerstören? «Solange sich unsere ethnische Identität auszahlt, ist sie nicht gefährdet», lächelt der oberste Indio von Otavalo. – Gehe sie auf die Inka zurück oder nicht.
Marie-Louise Zimmermann
(NZZ vom 17.6.2011)
Auf dem Viehmarkt von Otavalo ist die einheimische Bevölkerung unter sich. (Fotos: mlz)