TANSANIA

Hoffnung für die Waisenkinder von Kagera

In Tansania erprobt das in Basel ansässige Hilfswerk terre des hommes Schweiz mit dem Pilotprojekt «Mumuliza» neue Strategien zur psychischen und sozialen Unterstützung der vielen Aids-Waisen. Es will das Umfeld verwaister Kinder günstig beeinflussen und zugleich deren Selbstwertgefühl und Eigenverantwortung stärken.

Kagera ist ein Paradies. Üppig gedeihen Bananen, Maniok und Mais in der dunkelroten Erde, und auf dem Grasland der Hügel weiden langgehörnte Rinder. Frauen mit Wäschebündeln auf dem Kopf steigen vom Fluss herauf, vor den Lehmhütten spielen krausköpfige Kinder. Es riecht nach blühenden Kaffeebäumen und Holzfeuerrauch – afrikanische Idylle wie im Kitschroman. Doch Kagera ist alles andere als ein Paradies: Das abgelegene Hochland im äussersten Nordwesten Tansanias, etwa halb so gross wie die Schweiz, ist überbesiedelt und unterentwickelt, verarmt durch den gesunkenen Kaffeepreis. Und es gehört zu den am schlimmsten von Aids betroffenen Gegenden Afrikas.

Ueberfordertes Sozialnetz
Dazu gibt es zwar keine verlässlichen Angaben. Sie sind auch schwer zu erheben, weil von den vielen Toten kaum jemand an «ukimwi» gestorben ist (wie Aids auf Suaheli heisst), sondern an weniger diskriminierenden Krankheiten wie Malaria oder Tuberkulose. Und weil die Regierung die Statistik schönt, wie ein lokaler Gesundheitsbeamter beklagt: «Die Zahlen, die wir nach Daressalam melden, werden stark nach unten korrigiert.» Und das scheint auch schon alles zu sein, was der Staat zur Eindämmung der Seuche unternimmt.

Doch die vorhandenen Zahlen sind erschreckend genug: Ein Drittel der potenziellen Blutspender im regionalen Missionsspital und der von der Schwangerschaftsvorsorge erfassten Frauen in der nahen Stadt Mwanza wurden HIV-positiv getestet. Ein Lehrer im Dorf Nshamba berichtet, zwanzig Kinder seiner siebzigköpfigen Schulklasse hätten mindestens einen Elternteil verloren. Und diese Waisen machten Probleme: Viele verhielten sich apathisch oder aggressiv, störten oder schwänzten den Unterricht.

«Es gibt hier wenig Verständnis für die schwierige Situation verwaister Minderjähriger», erklärt Kurt Madörin. Der Basler Mitarbeiter von terre des hommes Schweiz hat seit 1997 im Dorf Nshamba in der Provinz Kagera das Hilfsprojekt «Humuliza» aufgebaut (was in Kihaya, der Lokalsprache, «Trost» bedeutet). «Ein vaterloses Kind gilt als wertlos, es wird wie nicht wahrgenommen oder sogar verspottet. Und es bleibt allein mit seiner Trauer und Angst, weil man über Krankheit und Tod hier nicht spricht, schon gar nicht über Aids.»

Gibt es denn nicht das gerade in armen Ländern doch so starke soziale Netz der Sippenhilfe? «Die Grossfamilie leistet sehr viel», weiss Madörin, «doch sie ist völlig überfordert. Wer kaum genug hat für die eigenen Kinder, freut sich wenig über zusätzliche Esser.» So werden elternlose Geschwister auseinander gerissen, zwischen Verwandten herum geschoben oder ganz verlassen. Viele enden als Strassenkinder in der Kriminalität und Prostitution. Über 100 000 Waisen vermutet man allein in der Provinz Kagera, und bis 2005 erwartet man in ganz Tansania rund 3,5 Millionen, gegen 12 Millionen in den afrikanischen Länder südlich der Sahara: Lauter tragische Schicksale, die sich zu einem gefährlichen sozialen und politischen Potenzial summieren.

Verständnisvollerer Umgang
Hier setzt das Pilotprojekt «Humuliza» von terre des hommes Schweiz in der Region Nshamba an: Es will das Umfeld verwaister Kinder und Jugendlicher günstig beeinflussen, zugleich ihren Selbstwert und die Eigenverantwortung stärken. «Wenn sie schon im Haus und auf dem Feld die Verantwortung von Erwachsenen übernehmen, oft noch kranke Eltern pflegen – dann müssen sie auch respektiert werden. Doch in dieser traditionell autoritären Gesellschaft mag man es nicht, wenn junge Menschen selbstbewusst auftreten», sagt Kurt Madörin.

Als Erstes hat der erfahrene Pädagoge und Soziologe ein halbes Dutzend einheimische Frauen und Männern ausgebildet. Eine ihrer Aufgaben besteht darin, das Personal von Schulen, Kindergärten, Krippen und Hilfsorganisationen den Umgang mit traumatisierten Minderjährigen zu lehren. Das Interesse ist gross, berichtet der Tansanier Dennis Bamwenzaki. «Nicht nur, weil wir gleichzeitig Schulmaterial gratis abgeben, sondern weil viele Lehrkräfte wissen, dass ihre Ausbildung mangelhaft und veraltet ist. Bei uns lernen sie moderne didaktische Methoden kennen wie Gruppenunterricht oder Rollenspiele.»

Erfolgreicher Therapieansatz
Über die rund 500 bisherigen Teilnehmenden hinaus werden die Anregungen zur Trauma-Therapie mit Kindern verbreitet durch ein praxisnahes, in Suaheli übersetztes Handbuch (wie alle Publikationen von «Humuliza» über Internet abrufbar) und durch eine Serie von sechzehn auch als Kassetten erhältlichen Radiosendungen.

Marcelina Biro leitet eine Therapiegruppe für sechs- bis zwölfjährige Waisen, die ihr von den Schulen als Problemfälle überwiesen wurden. «Am Anfang haben viele nur geweint – und ich mit ihnen», sagt die 25-Jährige. Mit Hilfe einer Handpuppe und einer Bildergeschichte hat sie dann die Kinder behutsam dazu gebracht, ihre Nöte und Ängste erst zu zeichnen, dann zu erzählen. So kam zum Beispiel die Geschichte der zwölfjährigen Julietta zu Tag, die nicht mehr sprechen und nicht mehr essen wollte: Sie hatte ihrem aidskranken Vater Essen ins Spital bringen sollen, war aber wegen eines Gewitters unterwegs untergestanden. Als sie ankam, war der Vater tot – und dafür fühlte sie sich so verantwortlich, dass sie selber sterben wollte.

Auf ihrem ersten Selbstporträt zeichnete sie sich winzig klein in einer Ecke unter einer schwarzen Wolke. Auf ihrer letzten Zeichnung scheint die Sonne, und sie geht Hand in Hand mit einer Freundin. «Ich kann nicht für alle Ersatzmutter sein, deshalb ist die Unterstützung durch andere Betroffene so wichtig», sagt Marcelina Biro. Aus dieser Erfahrung entstand die Idee, die in mancher Hinsicht besonders gefährdeten halbwüchsigen Waisen zusammenzuführen. Nachdem eine Pilotgruppe die Bedürfnisse und Ideen der Jugendlichen gesammelt hatte, gründete «Humuliza» im Februar 2000 eine Waisenorganisation. Sie gab sich selber den Namen «Vijana Simama Imara» (VSI), übersetzbar mit «Wir gehen aufrecht und schauen nach vorne».

Neue Solidarität
Ihre zurzeit gegen 500 Mitglieder, aufgeteilt in sechs regionale Sektionen, sind organisiert in selbst gewählten Kleingruppen von drei bis fünf benachbarten Dreizehn- bis Zwanzigjährigen. Sie haben sich selber einen erwachsenen Berater gesucht, meist eine Frau. Mindestens einmal pro Woche treffen sie sich, und sie helfen sich gegenseitig bei der Arbeit. Auch jüngere Kinder werden als «zukünftige Mitglieder» mit einbezogen, zum Beispiel bei den Schulaufgaben betreut. Wichtig ist die Unterstützung durch die Regionalgruppe, wenn der Vater oder die Mutter eines Mitglieds stirbt: Sie hilft, das für das soziale Ansehen so wichtige grosse Leichenmahl auszurichten. «Seit ich zu VSI gehöre, habe ich wieder so etwas wie eine Familie», dies ein oft gehörter Kommentar.

Und angeleitet von «Humuliza» haben die Gruppen verschiedenste Projekte zur Einkommensbeschaffung entwickelt: Sie pflanzen Gemüse oder stellen Gebäck her für den Verkauf, sie züchten Hühner oder holen en gros Trockenfisch, Salz oder Kerosin auf entfernten Märkten und machen dann mit dem Detailverkauf in der Nachbarschaft einen kleinen Gewinn.

Das Startkapital dazu bekommen die Jungunternehmer von der VSI-Bank, gegründet nach dem Vorbild der ebenfalls von terre des hommes initiierten, sehr erfolgreichen Spar- und Kleinkreditbank für Frauen (Wosca). Wer der Jugendbank den ersten, zinsfreien Kredit von 5000 tansanischen Schilling pro Mitglied (entspricht zehn Schweizer Franken) in den vorgeschriebenen sechs Monaten zurückzahlt, hat Anrecht auf ein zweites, höheres Darlehen. Und wer seinen Gewinn sicher aufbewahren will, eröffnet dort ein Sparkonto. 125 Einzelsparer zählt die Jugendbank bereits und 96 Kollektiv-Debitoren.

«Wahrscheinlich werden einige ihre Verpflichtungen nicht termingerecht erfüllen können und Beratung brauchen», vermutet Domician Mugasha, der die Jugendbank betreut. «Doch sie haben den für sie ganz neuen Umgang mit Geld geübt, das Sparen, Planen, Investieren.» Ihr Stolz, wie Erwachsene behandelt zu werden, wird jeden Samstag augenfällig, wenn sie mit den vier sechzehn- bis neunzehnjährigen Bankangestellten (zwei Burschen und zwei Mädchen) ihre Geschäfte tätigen. Die Spareinlagen betragen oft nur wenige Rappen: Aber genug, um ein Heft zu kaufen, ohne das man sich in der Schule nicht zeigen darf.

Landwirtschaftliche Ausbildung
Als weitere Verdienstmöglichkeit können die Jugendlichen einem der vielen überlasteten alten Menschen in der Nachbarschaft helfen beim Jäten, Waschen, Holz oder Wasser herbeischleppen. Dafür bekommen sie von «Humuliza» einen kleinen Taglohn und steigern zugleich ihr soziales Ansehen. «Wir haben unsere Waisenorganisation mit etlichen Selbstzweifeln gegründet», gesteht Kurt Madörin. «Fachleute äusserten nämlich Bedenken, sie könnte zu einer zusätzlichen Isolation führen. Nun ist aber ganz offensichtlich das Gegenteil geschehen: Die Waisen werden nicht mehr nur als Opfer und Belastung gesehen, sondern für ihre Leistung geschätzt.»

Die Hauptarbeit der vaterlosen Jugendlichen besteht im Bestellen der Felder – wofür sie oft schlecht vorbereitet sind, weil ihre jung verstorbenen Eltern ihr Wissen nicht mehr weitergeben konnten. In einer «Mobilen Farmschule» erhalten sie nun nach dem Modell schweizerischer Gewerbeschulen in ihrem Dorf Unterricht in nachhaltiger Landwirtschaft: Sie lernen den Nutzen von Kompost und Mulch, von Fruchtfolge und Gründünger, von natürlicher Schädlingsbekämpfung.

Der zweite weisse Mitarbeiter im Projekt, der junge Sozialarbeiter Markus Bütler, der hier Zivildienst leistet, konstruiert zusammen mit Jugendlichen solarbetriebene Dörrapparate, mit denen man Tomaten oder Bananen haltbar machen kann. Zentrales Anliegen aber ist der Versuch, die jungen Menschen vor Aids zu bewahren – in einem Land ohne jede wahrnehmbare Anstrengung zur Prävention. Epidemiologisch gesehen, sind sie «ein Fenster der Hoffnung»: Zu alt für eine Infektion bei ihrer Geburt und – vielleicht! – zu jung für sexuelle Aktivität.

Realitätsnahe Aufklärung
Doch die dringend notwendige Aufklärung ist schwierig in einer Gesellschaft, die das Reden über Sexualität sogar innerhalb der Familie streng tabuisiert. Und wo die einflussreichen Missionen, die katholische wie die lutherische, den Gebrauch von Kondomen hartnäckig verteufeln. «Enthaltsamkeit und Treue» empfiehlt statt dessen der freundliche Benediktinerpater, der die beste Mittelschule der Region leitet – und ständig mit den Sterbesakramenten ausrücken muss. Dies predigt er Menschen, für die Sex das einzige Freizeitvergnügen bedeutet – welches sie entsprechend frühzeitig und freizügig praktizieren.

Wie wenig sie zugleich darüber wissen, zeigen die Fragen im anonymen Briefkasten, den «Humuliza» zu Beginn der Aufklärungskampagne für die Mitglieder der Waisenorganisation eingerichtet hat: «Stimmt es, dass man beim ersten Sex nicht krank und nicht schwanger werden kann?» – «Wird man wirklich geheilt, wenn man als Aids-Kranker mit einer Jungfrau schläft?» – «Ist es wahr, dass die Kondome Löcher haben oder absichtlich infiziert wurden?» Die Antworten auf solche und viele andere Fragen lernte eine Gruppe von dreissig ausgewählten Jugendlichen – mit der Einwilligung ihrer Eltern und Betreuer, denen das unverkrampft explizite Unterrichtsmaterial vorher gezeigt wurde. Damit gehen die Burschen und Mädchen nun hinaus in die Dörfer, um die Gleichaltrigen zu informieren und die vom Staat völlig vernachlässigte Prophylaxe zu betreiben.

Dass sich dafür auch die Erwachsenen interessieren, berichtet die Präventionsgruppe bei ihrem sonntäglichen Treffen, zu dem manche bis zwei Stunden weit mit dem Velo hergefahren sind. Von neun Uhr morgens bis weit in den Nachmittag sitzen sie zusammen, erzählen von ihren Erfahrungen, füllen ihre noch bestehenden Informationslücken. Und sie reden nicht nur, sondern stellen ihre Probleme unter der psychologisch geschickten Leitung des «Humuliza»-Mitarbeiters Mtwazi Rwamulerwa mit viel dramatischem Talent in Rollenspielen dar. Dabei werden aus den so sehr ernst wirkenden jungen Erwachsenen plötzlich übermütig lachende Kinder.

Auffällig ist, wie selbstsicher hier die sonst sehr schüchternen Mädchen auftreten, wie frei sie sprechen. Auch das bedeutet einen Erziehungserfolg für «Humuliza», wo auf Geschlechtergleichheit grosser Wert gelegt wird – sogar im Erwachsenenteam anfänglich keine Selbstverständlichkeit. Lauter Zeichen der Hoffnung also. Doch die Probleme bleiben gewaltig und ungelöst: Niemand weiss, wie viele der Kinder und Jugendlichen angesteckt sind oder noch werden. Denn immer wieder hört man von Vergewaltigungen – in der Familie oder sogar innerhalb der Waisenorganisation. Und das Tabu gegen Kondome ist noch so stark, dass sich die einheimischen Mitarbeitenden gegen eine Gratisabgabe ausgesprochen haben, um das Image des Hilfsprojekts nicht zu gefährden.

Ausführliche Dokumentation
Dazu kommt: Die Organisation erfasst nur Waisen. Wer hilft den vielen Minderjährigen, die kranke Eltern pflegen? Und überhaupt: «Humuliza» ist ein kleines, finanziell bescheidenes Projekt. Das Jahresbudget beträgt blosse 200 000 Franken, auf fünf Jahre gedeckt zu ungefähr gleichen Teilen durch die Novartis-Stiftung für nachhaltige Entwicklung und die Eidgenössische Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). Davon profitieren etwa 4000 Minderjährige.

Was bedeutet das gegenüber den Millionen von Kindern und Jugendlichen in Not? Kurt Madörin wehrt sich gegen das schnell einmal bemühte Bild vom Tropfen auf den heissen Stein: «Wir sind so etwas wie ein Labor, das neue Strategien zur psychosozialen Unterstützung von Waisen in einem abgelegenen, ländlichen Gebiet praktisch erprobt. Alle unsere Arbeit wird ausführlich dokumentiert, publiziert und über Internet zugänglich gemacht.» Bereits liegen etliche Handbücher von «Humuliza» vor, die in verschiedene afrikanische Sprachen und in Portugiesisch übersetzt wurden.

Denn seit diesem Sommer funktioniert der Wissenstransfer international: Angeregt von terre des hommes Schweiz und der Heilsarmee fanden sich 55 Vertreter von Hilfsorganisationen, Spezialistinnen von Universitäten und betroffene Jugendliche aus Tansania, Uganda, Simbabwe, Sambia, Malawi, Moçambique, Südafrika und Namibia zusammen zu einem «Think Tank». Auch Unicef, Unaid, Deza und ein schwedisches Hilfsprogramm waren beteiligt. Gemeinsam ist allen diskutierten Strategien der relativ geringe Finanzbedarf. So könnte das kleine Projekt von Terre des hommes Schweiz in Kagera zur Initialzündung werden für eine Bewusstseinsveränderung, die den Millionen von Aids-Waisen in Afrika eine Zukunftschance gibt.

Marie-Louise Zimmermann
(Magazin der Basler Zeitung vom 2.3.2002)