Hoch über dem Tal thront das Dorf San Martino
Alte Kulturlandschaften, unzerstörte Natur und regionale Spitzenküche machen das abgelegene italienische Alpental zu einem Wanderparadies. Es lässt sich leicht entdecken dank wieder instand gesetzter Saumpfade und neu eröffneter Unterkünfte.
In sanft ansteigenden Kehren zieht sich der Saumweg den Steilhang hinauf: erst durch schattigen Kastanienwald, dann durch sonnenheisse Blumenwiesen voller Schmetterlinge und Heuschrecken. Kunstvoll angelegt sind die Steinstufen und die Mäuerchen am Wegrand, heischen Respekt für viele Arbeitsstunden in alter Handwerkskunst. Man wähnt sich im Tessin vergangener Zeiten.
Entvölkertes Alpental
Das gilt auch für die aus Granitplatten gefügten Wohnhäuser, Ställe und Kappellen in den kleinen Dörfern. Doch die von Brennnesseln überwachsenen Mauerreste und eingestürzten Dächer verlassener Gebäude zeugen von der Entvölkerung des Grenztales zwischen Italien und Frankreich.
„Das schwarze Loch Europas“ wird die Provinz Cuneo im Südwesten des Piemonts genannt. Im 19. Jahrhundert noch dicht besiedelt, entleerte sich die karge Berggegend nach dem Zweiten Weltkrieg zunehmend bis auf einen Zehntel der Bevölkerung. Heute leben im oberen Mairatal noch zwei Menschen auf einem Quadratkilometer – halb so viele wie in Alaska.
So verbindet zwar im Talgrund eine Autostrasse die grösseren Ortschaften; doch auf den Bergpfaden bleibt man stundenlang allein. Die wenigen alten Menschen in den noch bewohnten Weilern freuen sich über jede Begegnung, laden einen gerne zu einem Trunk ein.
Sanfter Tourismus
Dass man vor allem Wanderkollegen von jenseits der Alpen antrifft, ist kein Zufall: Vor zwanzig Jahren gründete das österreichisch-deutsche Ehepaar Schneider im Dorf San Martino das „Centro Culturale Borgata“. Auch nach dem Tod ihres Mannes Andrea 2004 bietet Maria Schneid gediegen schlichte Gästezimmer an, samt exquisiter Vollwertküche und einer Fülle von Informationen.
Von den Schneiders stammt auch die Idee, die alten Maultierwege, Fusspfade und Militärsträsschen instand zu setzen und zu einem Rundweg zu verbinden. Ausserdem regten sie an, am Ende der Wanderetappen neue Unterkünfte einzurichten.
Sie fanden Unterstützung im Tal: Die „Assoziazione Percorsi Occitani“ trägt die Verantwortung für das Wegnetz und ein gutes Dutzend „posti tappa“: einfache, preisgünstige Schlaf- und oft auch Kochgelegenheiten, meist in vorhandenen Gebäuden wie nicht mehr genutzten Schul- und Pfarrhäusern oder aufgegebenen Herbergen.
Auch wenn der Zustand und die Markierung der Wanderwege nicht immer schweizerischen Erwartungen entspricht: Sie werden doch unterhalten, während man sie anderswo in Italien oft vollmundig einweiht und dann vergammeln lässt.
Folgenreiches Buch
Das Mairatal bekannt gemacht im deutschsprachigen Raum haben die auf Alpenthemen spezialisierten Publizisten Jürg Frischknecht und Ursula Bauer. Vor gut zehn Jahren entdeckten sie die abgelegene Gegend und lernten das Ehepaar Schneider kennen. Daraus entstand ihr Reiseführer „Antipasti und alte Wege“, der neben ausführlichen Wegbeschreibungen auch viele historische und kulturelle Fakten liefert – und nicht zuletzt eine verlockende Beschreibung der regionalen Küche.
Das anregende Buch hat dem Tal einige dringend benötigte Arbeitsplätze gebracht: Es entstanden neue Uebernachtungsmöglichkeiten, so dass man auch in der Hauptsaison kaum mehr Unterkunftsprobleme hat. Und die Restaurants florieren. Kein Wunder, ist doch das Piemont die berühmteste Schlemmergegend Italiens. Während man in den Touristenorten vorwiegend edel und entsprechend teuer speist, tafelt man in den schlichten Landbeizen nicht weniger üppig, aber erstaunlich preisgünstig.
Lohnende Entdeckungen
Köstlich sind vor allem die regionalen Spezialitäten: frische Pasta oder Risotto mit Steinpilzen, warmer Ziegenkäse auf Salat aus dem eigenen Garten, Polenta mit Fonduta, Kaninchen oder Lamm aus dem Ofen und im Herbst Gamspfeffer. Die Gerichte werden nach traditionellen Rezepten zubereitet, doch bei den Antipasti hat die Erfindungsgabe freien Lauf. Oft bekommt man gleich mehrere dieser kalten und warmen Vorspeisen, bevor der Hauptgang aufgetragen wird.
Dazu gibt es natürlich einen nicht weit weg gewachsenen Brunello, Dolcetto oder den edlen Rosso d’Alba. Wer die oft recht langen Etappen zu Fuss bewältigt hat, kann die Schlemmerei verkraften, ohne dass der Hosenbund platzt.
Und auch kulturelle Schätze gibt es zu entdecken: einen Rest von Fresken an einer bröckelnden Hausmauer, eine bäuerliche Holzmadonna in einem Bildstock. Die grösste Ueberraschung aber bietet die Kirche auf der hoch gelegenen Alp Elva, die ein holländischer Künstler im 15. Jahrhundert mit farbenfrohen Bibelszenen ausgemalt hat. So wohlhabend war einst das Mairatal, das uns heutzutage gerade wegen seiner Armut mit dem Reichtum an unzerstörter Naturschönheit erfreut.
Überraschende Kirchenfresken auf der Alp Elva. (Fotos: Margrit Baumann)
Tipps und Infos
Oeffentliche Verkehrsmittel: Anreise per Zug via Turin-Cuneo, dann Bus nach Dronero und ins Mairatal bis Acceglio Fahrplanauskunft bei www.benese.it oder Tel. +39 171 692 929. Spärliche Kurse, sonst Taxis. Privater „Sherpa Bus“ (Tel. 348 823 1477) im ganzen Tal, transportiert auch Gepäck.
Wandersaison: In tiefen Lagen ab April bis Oktober, zuoberst ab Juli.
Route: Der Mairaweg „Percorsi Occitani“ führt in 12 Etappen rund um das Tal. Viele Querverbindungen und kürzere Wanderungen möglich.
Karten: Wanderkarte 1: 50’000 Nr. 7 (Valli Maira Grana Stura) und Nr.6 (Monviso) des ICG Turin. Leider veraltet, mit unzuverlässig eingezeichnetem Mairaweg.
Führer: Frischknecht/Bauer: Antipasti und alte Wege (Rotpunkt Verlag) enthält alle nötigen Angaben. Aktualisierungen unter www.wanderweb.ch/Maira. Und Bade/Mikuteit: Wanderführer Piemont (Michael Müller Verlag)
Unterkunft: Am schönsten bei Maria Schneider in San Martino, info@borgata-sanmartino.eu, Tel. +30 171 999 186. Hier auch viel Info in Deutsch und Buchung der Posti Tappa. Ausserdem etliche günstige B&Bs, Agriturismi, Locande oder Pensionen..
Information: www.ghironda.com/valmaira und Ufficio Turismo Dronero, info@vallemaira.it
Marie-Louise Zimmermann
(Erschienen in der Revue der Berner Wanderwege 3/2010)