SIZILIEN

Im Paradies der Wildblumen


Blühender wilder Fenchel beim griechischen Tempel von Segesta. Foto: mlz

Im Frühling verwandeln sich die Naturlandschaften Siziliens in ein Farbenmeer. Von einem Botaniker geführt, erfährt man auf gemächlichen Wanderungen mehr über die reiche Vielfalt der Wildblumen und wähnt sich dabei oft im Reich der Götter.

Das grosse Blühen beginnt schon bei der Ausfahrt aus Palermo: Wie ein goldener Wasserfall säumen die mimosenartigen Blütenkaskaden der Akazien die Autobahn. Noch bunter treibt es die Natur in den Magerwiesen des ländlichen Küstengebiets. Es ist, als ob ein impressionistischer Maler die Palette gemischt hätte: Ins Violett der Natternkopfblüten hat er die hellblauen Sterne von Borretsch gesetzt, daneben das Orange von Ringelblumen, das Purpurrot von Süssklee.

Grosse Artenvielfalt
Weiss gefleckte Stauden von zart violett blühenden Milchdisteln und die braunen Rispen von Riesengras ragen über die Farbenpracht. Vor dem Tiefblau des Meeres leuchten die hohen Kandelaber des wilden Fenchels, und vielerorts breiten sich Teppiche gelber Margeriten aus wie abertausend kleine Sonnen. Doch es sind gar keine Margeriten, sondern Kronenwucherblumen, Glebionis coronatum, korrigiert der Experte.
Ausserdem gilt es zu unterscheiden zwischen dem essbaren Wilden Fenchel, Foeniculum vulgare, und dem spektakulären, aber giftigen Rutenkraut, Ferula communis.Geduldig wiederholt Adi Möhl für die Anfänger den Gattungs- und Artnamen jeder Pflanze und erklärt Besonderheiten, Lebensbedingungen, Verwandtschaften. Der ansteckend begeisterte Botaniker leitet seit Jahren Reisen zur Mittelmeerflora und weiss, wo die reichsten Vorkommen und seltensten Exemplare zu finden sind.
Von morgens bis abends unterwegs auf den Küstenwegen im Nordwestzipfel Siziliens, legen wir doch nur wenige Kilometer zurück; denn alle paar Schritte gibt es eine neue Pflanze zu entdecken und zu benennen. Allein im kleinen Reservat am Monte Zingaro wachsen gegen tausend Arten! Natürlich kann man sich damit zufriedengeben, ihre Schönheit zu bewundern. Doch erst wer sie bestimmen will, schaut genauer hin.

Attraktive Seltenheiten
Gerade die unscheinbaren kleinen Kräuter haben oft dekorative Samenstände, so etwa der Venuskamm, die Füllhorn-Fedie oder die gegen dreissig verschiedenen Arten von Schneckenklee. Spektakulärer sind die vielen verschiedenen Orchideen, besonders die Ragwurzarten. Ihre auffälligen Blüten sehen aus wie Bienen, Hummeln oder Wespen und locken mit weiblichen Duftstoffen die Männchen an, um von ihnen bestäubt zu werden.
Noch mehr begeistern sich angefressene Botaniker aber für die Endemiten: Arten, die nur an wenigen Orten vorkommen. Besonders reich an solchen Seltenheiten ist der Monte Cofano, in dessen schroffen Kalkfelsen die zarte Silberwinde, die Sizilianische Heide mit ihren rosa Glöcklein und andere mehr gedeihen. Interessant sind auch die listigen Strategien, mit denen sich die Pflanzen in den Salinen bei Trapano an das Salzwasser angepasst haben.

Gärten der Persephone
Sizilien, ein halbes Jahrtausend zum griechischen Kulturkreis gehörig, ist reich an Mythen. Eine Wiese voll weisser Affodill-Lilien, die nach antikem Glauben in der Totenwelt blühten, erinnert an die Geschichte von Persephone: Die Tochter der Erntegöttin Demeter wurde vom Gott Hades in die Unterwelt entführt, durfte aber jedes Jahr vier Monate zurückkehren, um ihre Gärten zu pflegen – ein schönes Symbol für den Wechsel der Jahreszeiten. Manche Wiesen auf der südöstlichen Hochebene der Iblei sehen wirklich aus wie von einer Göttin angelegt. Viele der von hellen Bruchsteinmauern begrenzten kleinen Felder sind nicht mehr bewirtschaftet und wurden von Wildblumen übernommen.
Dazwischen öffnen sich tiefe Kalkschluchten, oben bewachsen von Zwergpalmen und buschiger Wolfsmilch, weiter unten von Johannisbrotbäumen, Steineichen, Manna-Eschen. Auf steilen Wegen vergisst man aber, nach Pflanzennamen zu fragen. Und im Abendlicht am Schluchtrand sitzend, geniesst man nur noch den Weitblick, den Ginsterduft, den Vogelgesang. Genussvoll ist auch die Unterkunft in einer gastfreundlichen Gartenpension in Scopello und in einem stilvoll umgebauten Gutshof bei Noto. Und vor allem die sizilianische Küche mit ihren üppigen Antipasti, Pastaspezialitäten und Dolci, begleitet von süffigem Nero d’Avola aus den nahen Rebbergen. Ob man danach noch die Pflanzenliste des Tages nachführt, bleibt offen.


Im Garten der Persephone. Foto: mlz

Tipps und Infos
Beste Reisezeit: Hauptblütezeit vieler Pflanzen: Ende März bis Mitte Mai, Nachblüte September bis Mitte Oktober.
Transport: Nach Sizilien direkt mit Air Berlin nach Palermo. Umweltfreundlich im Zug nach Genua und per Fähre über Nacht nach Palermo. Auch Direktzüge Mailand–Messina–Catania (mit Schlafwagen). In Sizilien schwierig ohne Mietauto.
Unterkunft: in Scopello bei Vito und Cecilia Mazzara (auch Ferienwohnungen), Telefon 0039 0931 81 30 19 (keine Webseite); bei Noto Antica: www.masseriadegliulivi.com.
Naturschutzgebiete mit Wanderwegen: Parche delle Madonie, dei Nebrodi, del Etna; Reserve Zingaro, Monte Pellegrino, Bonifato (im NW); Pantalica, Cavagrande (im SO).
Botanikreisen Bern: drei bis zehntägige Reisen in Kleingruppen, vor allem in der Schweiz und Italien, Spanien, Frankreich. Kompetent, entspannt, preisgünstig. www.botanikreisen.ch.

Marie-Louise Zimmermann
(Erschienen in der Berner Zeitung vom 13.5.2011)