JANE GARDAM

Ein echt britisches Lesevergnügen

Endlich ist Jane Gardam, die Grand Old Lady des englischen Romans auch auf Deutsch zu lesen: «Ein untadeliger Mann» und «Eine treue Frau» erzählen von einem ungewöhnlichen Ehepaar im zu Ende gehenden Britischen Empire. Farbige Schauplätze, stimmige Psychologie, ironischer Witz und sprachliche Eleganz garantieren eine seltene Lesefreude. Very British!

Kaum zu glauben, das die 87jährige Jane Gardam so lange auf eine deutsche Uebersetzung warten musste. In ihrer britischen Heimat lieben vor allem die Leserinnen diese mehrfach preisgekrönte Nachfolgerin einer Jane Austin. «Ein untadeliger Mann» und «Eine treue Frau», die ersten Bände ihrer berühmten Trilogie (der letzte erscheint im Herbst), wird sie nun auch bei uns bekannt machen. Sie wären eine gute Vorlage für eine erfolgreiche Serie im Stil von «Downton Abbey».

Ein traumatisierter Erfolgsmensch
Erzählt wird die fünf Jahrzehnte umspannende Geschichte eines im fernen Südosten des Britischen Empires beheimateten Paares. Der tadellose Gentleman Edward Feathers gibt sich selbst den selbstironischen Spitznamen «Filth» (Dreck), abgekürzt für «Failed in London, try Hongkong». Trotz seines gehemmten Stotterns macht er als Anwalt in der  Kronkolonie Karriere, wird im Bauboom reich und als Richter hoch geachtet. Er heiratet die in Fernost geborene, fröhliche Schottin Betty und führt mit ihr eine lange, glückliche Ehe: erst in Hongkong und Singapur, dann in ihrem südenglischen Alterssitz,
Was soll daran spannend sein? Es ist die Innenansicht zweier feinfühliger Menschen, die ihre seelischen Verletzungen selbstdiszipliniert meistern. Denn Eddie und Betty sind  Raj-Waisen. So nannte man die Kinder britischer Kolonialbeamter, die schon im Vorschulalter von ihren Eltern in die unbekannte Heimat geschickt wurden, um den Gefahren tropischer Länder zu entgehen und eine standesgemässe Erziehung zu erhalten. «Unsere Eltern opferten uns, während sie weiter das Empire regierten. Wir sind alle beschädigt, wenn auch ziemlich widerstandsfähig geworden», sinniert der alte Eddie.
Der mutterlose Vierjährige wird von seinem gefühlskalten  Vater aus dem vertrauten Malaysia nach Wales verfrachtet zu einer unbekannten Familie, die ihre Pflegekinder misshandelt. So etwas wie Heimat findet er später im Internat bei einem allerdings pädophilen Lehrer und der Familie seines einzigen Freundes – der  im 2. Weltkrieg umkommt. Eddie stellt fest: «Mein ganzes Leben lang wurde ich von den Menschen getrennt, die ich liebte.» Deshalb formuliert er als zwingende Bedingung seines Heiratsantrags an Betty: «Du darfst mich nie verlassen.»

Eine lebenskluge Ehefrau
Betty, ebenfalls Raj-Waise und überdies traumatisiert in einem japanischen Gefangenenlager, verspricht es. Und hält sich daran, wenn auch in zweifelhafter Treue: Denn sie entscheidet sich für den grundanständigen, aber steif verschlossenen älteren Mann mehr mit dem Kopf als aus dem Bauch: «Ich habe genau das gewählt, was meine Mutter gewollt hätte: einen reichen, zuverlässigen Ehemann und ein angenehmes Leben», gesteht sie mit schonungsloser Klarsicht.  Als musterhafte Gattin wird sie ihre gesellschaftliche Rolle mit Geschick und Geschmack ausfüllen.
Doch während ihrer kurzen Verlobungszeit hat sie ihre Jungfräulichkeit ausgerechnet mit dem beruflichen Rivalen ihres Ehepartners verloren. Diesem vulgären, aber vitalen Emporkömmling bleibt sie lebenslang verfallen,cund seinen Sohn liebt die ungewollt Kinderlose wie einen eigenen. Ihr Mann ahnt es, ohne es wissen zu wollen und betrügt sie seinerseits mit mit einer Jugendliebe. Dennoch führen die beiden von Zuneigung und Respekt geprägte solide Ehe – bis Betty beim Gärtnern in ihrem englischen Alterssitz an einem Herzanfall stirbt. Ohne seine lebenstüchtige bessere Hälfte ist Eddie völlig verloren, rappelt sich aber dann überraschend auf zu einem erfüllten Weiterleben.

Mit ironischer Eleganz
Diese Geschichte mit ihren vielen Verzweigungen, Schauplätzen und Figuren erzählt Jane Gardam auf fünf Zeitebenen. Die sie so kunstvoll verknüpft, dass man nie den Faden verliert. Manchmal zeigt sie schon bekannte Episoden aus einem anderen Blickwinkel und wirft so neues Licht in die seelischen Abgründe ihrer Hauptpersonen. Je näher man diese kennen lernt, desto mehr wächst die Empathie und Bewunderung für ihre typisch britische «stiff upper lip»: die unerschütterliche Disziplin, den Unbillen des Lebens mit Contenance zu begegnen.
Unverkennbar britisch wirkt auch die Vorliebe Jane Gardams, ihre spürbare Zuneigung zu all ihren Figuren mit feiner Ironie und trockenem Witz zu unterkühlen.  Und bewundernswert ist die knappe Klarheit ihrer unangetrengt eleganten Sprache, die auch  in der erstklassigen Uebersetzung durchscheint. All das macht dieses Porträt einer untergegangenen Epoche und eines ungewöhnlichen Paares trotz der nostalgischen Grundstimmung zu einem grossen Lesevergnügen.

Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in «Schweiz am Sonntag» vom 17. April 2016)