ALÉA TORIK

Ein neuer Stern am Literaturhimmel

Ein junger Blinder lernt das Leben lieben, indem er die Welt als Musik erfährt: Das ist eines von vielen berührenden Schicksalen, die Aléa Torik im Erstlingsroman «Das Geräusch des Werdens» miteinander verknüpft. Hinter dem Pseudonym verbirgt sich ein neues Talent von bewundernswerter Einfühlungsgabe und Sprachkraft.

Es ist ein seltenes Ereignis, beim Lesen eines Erstlings schon nach dreissig Seiten zu ahnen, dass man da einen neuen Stern am deutschen Autorenhimmel aufgehen sieht. Das macht neugierig: Wer ist Aléa Torik? Der Klappentext verrät nur: 1983 im deutsch-rumänischen Siebenbürgen geboren, studiert in Berlin Literaturwissenschaft.

Ein Foto gibt es nicht und auch keine Interviews oder Lesungen, heisst es beim deutschen Kleinverlag Osburg. Doch es handle sich, Ehrenwort, wirklich um den Erstling eines jungen Menschen, ob Mann oder Frau, bleibt offen. Der wohlklingende Name Aléa Torik ist ein Pseudonym. «Aleatorik» benennt laut Duden ein Kompositionsprinzip, das den Zufall nutzt – abgeleitet von «alea», dem lateinischen Wort für Würfel. Das Versteckspiel befremdet, ändert aber nichts an der Qualität dieses Romans, der alles andere als zufällig wirkt.

Farben und Geräusche
«Das Geräusch des Werdens» evoziert in starken Bildern zwei Schauplätze: das Karpatendorf Marginime und die deutsche Hauptstadt Berlin, wo sich die Lebenslinien der Figuren kreuzen und verknüpfen. Im Zentrum steht Marijan, der als Dreizehnjähriger erblindet, mit der Mutter aus dem Dorf nach Berlin zieht und dort nach ihrem Tod jahrelang völlig einsam lebt, bis er der Liebe begegnet. Mit erstaunlicher Einfühlungsgabe wird beschrieben, wie er sich auseinandersetzt mit seiner «Blindheit inmitten einer Welt des Sehens, dieser Gefangenschaft in einer Welt aus Freiheit». Man folgt berührt seinen erfolgreichen Anstrengungen, den Sehverlust zu kompensieren.

In einer Regennacht steht er am Fenster und lauscht, wie es draussen «rauscht und rinnt und rieselt, schwimmt und schwappt und spritzt und sprudelt, prasselt, plätschert und platscht». Dabei denkt er: «Man müsste all das, was wird, was entsteht oder vergeht, alles, was eine Entwicklung nimmt, einen Verlauf oder eine Veränderung, man müsste alles dazu zwingen, dabei ein Geräusch zu machen. Denn nur am Geräusch des Werdens kann ich erkennen, dass etwas ist.» Ein Unbekannter schenkt Marijan eine Kamera mit den Worten: Man sehe besser, wenn man gar nichts sehe. Nach langem Zögern beginnt der junge Mann zu fotografieren, «um der Blindheit zu entkommen». Als eine Galerie seine Aufnahmen ausstellt, sagt er in seiner Vernissagerede: «Ich wollte nicht etwas und ich wollte nicht nichts fotografieren, so entschied ich mich für die Zwischenräume. Zwischen den Fragmenten eines Blinden ist sehr viel Platz. Platz für eigene Fantasien.»

Komplizierte Komposition
Dasselbe gilt für Aléa Toriks Roman, der sich zusammensetzt aus lauter Bruchstücken. Erzählt wird über drei Generationen von einem guten Dutzend alter und junger Menschen, die in Marginime leben, von dort nach Berlin ziehen und auch wieder zurückkehren. Manche verlieben sich auf den ersten Blick und finden so etwas wie Glück, andere verlassen sich wieder, einige gehen für immer verloren. Jedes der sorgfältig ausgearbeiteten Kapitel beleuchtet in einer zeitlich frei gewählten Momentaufnahme eine der periodisch wiederkehrenden Figuren, deren Beziehungen erst mit der Zeit deutlich werden.

Das stellt hohe Ansprüche an die Lesegeduld. Man blättert ständig zurück, legt sich schliesslich ein Personenregister an – und beschliesst auf der letzten Seite, das Buch gleich nochmals ohne diese Erschwernis zu lesen. Denn es ist hinreissend gut geschrieben in einer geschmeidigen Sprache, die mit einer Vielzahl von Registern für jedes Kapitel die passende Tonart findet: präzise Sachlichkeit, lyrische Musikalität, surreales Fabulieren. So entsteht etwa aus einer blossen Auflistung von Strassen und Gebäuden ein suggestives Bild von Berlin, ein Liebespaar im Regen wird zu einer poetischen Filmszene, ein Tischler im Karpatendorf wirkt wie eine archaische Märchenfigur. Es sind Orte und Menschen, die man nicht mehr vergisst.

Osburg-Verlag, 365 Seiten. www.aleatorik.eu

Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in der Berner Zeitung vom 29.3.2012)