LIEBLINGSBÜCHER

Lesend reise ich bis ans Ende der Welt

Was meine bevorzugte Lektüre sei, wurde ich als Seniorin gefragt. Die Antwort fällt mir leicht: Dieselbe wie eh und je. Nämlich Erlebnisberichte von Menschen, die viel verstehen vom Reisen und ebenso viel vom Schreiben – neben dem Lesen meine Lieblingsbeschäftigungen.

Das wichtigste Buch meiner lesehungrigen Kindheit war „Hansi und Ume“ von Elsa Muschg (1899-1976). Ich könnte noch in allen Einzelheiten nacherzählen, wie ein Schweizer Bub über Amerika nach Japan reist, dort ein Jahr verbringt und dann via Suezkanal heimkehrt. Seither weiss ich, dass die Erde rund ist und hochinteressant.
Noch spannender waren im grosselterlichen Bücherschrank die vielen Bände des schwedischen Entdeckers Sven Hedin (1865-1952), der als erster die lebensfeindlichen Wüsten und Gebirge Zentralasiens durchquerte. Schon bevor ich Frakturschrift lesen konnte, studierte ich seine Skizzen von Stammesfürsten und Nomadenfrauen, Lehmhäusern und Kamelmärkten. Samt den präzisen Beschreibungen bleiben sie ein wertvolles Dokument verschwundener Kulturen, auch wenn man sich am Dünkel des Nazisympathisanten stösst.

Mutige Frauen
Alten Karawanenrouten folge ich auch, wenn ich im Bildband „Unsterbliches Blau“ blättere und mich freue an den Fotos und Texten von drei ebenso unerschrockenen wie talentierten Reisenden aus der Schweiz: 1939 fahren zwei Frauen in einem kleinen Ford von Genf nach Kabul und kehren bei Ausbruch des Zweiten Weltkriegs per Schiff zurück. Die schöne Zürcher Industriellentochter Annemarie Schwarzenbach (1908-42), hochbegabt und tiefunglücklich, will mit diesem Abenteuer ihre Drogensucht überwinden. „Alle Wege sind offen!“, jubelt sie in einem Brief an ihre Freundin Erika Mann und betitelt so ihre poetischen Landschaftsbilder.
Klaglos sachlich erzählt dagegen die zähe Genfer Ethnologin und Olympiasportlerin Ella Maillart (1903-97) in „Die bittere Reise“ von ihren Problemen mit der Logistik und der unsteten Gefährtin. Und in „Verbotene Reise“ nennt sie ihren strapaziösen Treck von Peking nach Kaschmir „das Schönste, was man auf diesem Planeten unternehmen kann.“ Von ihr habe ich gelernt, dass Wagnisse auch ohne männlichen Schutz gelingen, am besten mit möglichst wenig Planung und Komfortanspruch. Denn: „Wo immer Menschen leben, können auch Reisende leben.“
Noch lieber ist mir das Buch „Die Erfahrung der Welt“ des Genfers Nicolas Bouvier (1929-98). 1953 braucht er zusammen mit dem befreundeten Fotografen Thierry Vernet im Topolino zwei Jahre nach Kabul. Monate lang stecken sie fest im winterlichen Täbris und integrieren sich in die dortige Gesellschaft. Bouviers bildstarke Sätze singen das Lob der Langsamkeit: Nur dann „strömt die Welt einem Wasserlauf gleich durch einen hindurch und leiht einem die Farben.“

Beneidete Ausreisser
Gefangen in Schulbänken, war ich fasziniert vom jungen Ausreisser Blaise Cendrars (1887-1961) alias Frédéric Sauser-Hall, der mit sechzehn aus dem heimatlichen Neuenburg abhaut und sich ein halbes Jahrhundert lang auf dem ganzen Erdball herum treibt. Dem grossen Lyriker, dessen rund vierzig Bücher so schöne Titel haben wie „Wind der Welt“, verdanke ich mein Lebensmotto: „Ich bin ein Mensch mit Sohlen aus Wind.“
Als Vehikel für Tagträume diente mir auch lange „On the Road“ von Jack Kerouac (1922-69), das ich in der ungekürzten Neuauflage mit wehmütigen Gefühlen wieder gelesen habe. In den fünfziger Jahren trampt der Beatnik in Güterzügen und Lastwagen durch ganz Amerika und nimmt damit den Freiheitsentwurf der Hippies voraus, der wenig später so traurig in Drogen untergehen wird.
Einen anderen Heiligen meines Kalenders musste ich leider vom Sockel stürzen: den attraktiven Briten Bruce Chatwin (1940-89), der wegen einem prähistorischen Fellrest nach Patagonien reist und in Australien den Traumpfaden der Ureinwohner folgt. “What am I doing here?“, Titel seiner gesammelten Essays, habe ich auf schwierigen Reisen oft gedacht und mich wie er auf den Wert einer neuen Erfahrung konzentriert. Und nach seinem Vorbild brauche ich schwarze Moleskin-Büchlein für meine Notizen. Sein Biograf Nicolas Shakespeare hat aber aufgezeigt, wie schändlich der brillante Stilist geflunkert und die von ihm geschilderten Menschen diskreditiert hat.
Respektvoller geht der Brite Patrick Leigh Fermor (1915-2011) mit seinen Reisebekanntschaften um. Er will mit achtzehn Schriftsteller werden und wandert dafür fast mittellos von Holland in die Türkei. In „Die Zeit der Gaben“ und „Zwischen Wäldern und Wasser“ beschreibt er viel später kenntnisreich die seither im Bombenhagel untergegangenen deutschen Städte und das einstige Jugoslawien. Dabei macht er einem bewusst, wie viel leichter zugänglich die Welt geworden ist – und wie viel fader.

Menschliche Begegnungen
Am intensivsten erlebt man sie noch immer zu Fuss. Wie der deutsche Wolfgang Büscher (geboren 1951), der ohne einen Cent in der Tasche quer durch die USA marschiert. Die Menschen, die ihm dabei helfen, vergisst man nicht mehr, ebenso wenig die Begegnungen zwischen Berlin und Moskau oder bei seiner Umrundung Deutschlands entlang der Grenzen. Dabei bekommt man eindrücklich mit, dass „das Reisen seine eigenen Gesetze hat.“
Auch der Amerikaner Paul Theroux (*1941) porträtiert am liebsten Reisebekanntschaften, oft mit mildem Spott. Amüsiert fährt man mit ihm in „Der alte Patagonienexpress“ von seinem Haus in Boston an die Spitze Südamerikas in allen möglichen und unmöglichen Zügen. Ein Satz des Vielgereisten tröstet mich oft über meine mangelhafte Packerei: „Auf jeder Reise hatte ich etwas dabei, was ich nie brauchte und etwas nicht, was ich dringend gebraucht hätte.“

Brillanter Journalist
Wer wirklich gut über Reisen schreibt, verdient meist seinen Lebensunterhalt mit Journalismus und steigert dieses Handwerk zur Kunst. Zu den Grossen dieser Gattung gehört der Pole Ryszard Kapuściński (1932-2007), auch wenn der Wahrheitsgehalt seiner Reportagen manchmal angezweifelt wird. „Afrikanisches Fieber“ ist das beste Buch über den dunklen Kontinent, das ich kenne: auf Augenhöhe mit den Menschen geschrieben.
Für seine erste Auslandreise als junger Zeitungsvolontär wird er nach Indien geschickt – und das grosse Staunen hat er nie mehr verloren. Davon berichtet er in „Meine Reisen mit Herodot“. Er folgt darin den Spuren des antiken Schriftstellers, der als erster Reisereporter gilt. Seiner Devise „Die Grenzen überschreiten“ werde ich treu bleiben, auch wenn mir dereinst nur noch das Reisen im Lehnstuhl bleibt.

Die erwähnten Titel

-Elsa Muschg: Hansi und Ume unterwegs; Hansi und Ume kommen wieder (vergr.)
-Sven Hedin: Durch Asiens Wüsten; Abenteuer in Tibet u.a. (Erdmann)
-Bildband: Unsterbliches Blau (Ed. Zoé)
-Annemarie Schwarzenbach: Alle Wege sind offen (Lenos)
-Ella Maillart: Die bittere Reise; Verbotene Reise (Lenos)
-Nicolas Bouvier: Die Erfahrung der Welt (Lenos)
-Blaise Cendrars: Wind der Welt (vergr.); Auf allen Meeren (Lenos); Ich ist ein Anderer, Gedichte (Lenos)
-Jack Kerouac: On the Road (dt., rororo)
-Bruce Chatwin: In Patagonien (rororo); Traumpfade (Fischer); Was mache ich hier (Hanser)
-Patrick Leigh Fermor: Die Zeit der Gaben; Zwischen Wäldern und Wasser (Fischer)
-Wolfgang Büscher: Hartland; Berlin-Moskau; Deutschland, eine Reise (rororo)
-Paul Theroux: The Old Patagonia Express (engl. Penguin)
-Ryszard Kapuściński: Afrikanisches Fieber (Eichborn); Meine Reisen mit Herodot (Piper).

Marie-Louise Zimmermann
(Erschienen in der Berner Zeitung vom 19. Juli 2012)