CHRISTOPH POSCHENRIEDER

Wie man einem Toten Leben einhaucht

In seinem Romanerstling «Die Welt ist im Kopf» erweckt Christoph Poschenrieder den Philosophen Arthur Schopenhauer mit seiner ganzen Epoche zu prallem Leben. Die raffinierte Mischung aus Fakt und Fiktion bietet eine fesselnde Lektüre.

Dass man mit zwei toten Gelehrten einen Erfolgsroman landen kann, hätte vor fünf Jahren wohl niemand gedacht. Doch dann kam Daniel Kehlmann mit «Die Vermessung der Welt» und stürmte sogleich die Bestsellerlisten. Anderthalb Millionen Mal verkaufte sich dieser im 18.Jahrhundert spielende Roman über zwei verschrobene Pioniere, den Naturforscher Alexander von Humboldt und den Mathematiker Carl Friedrich Gauss.

Eine Überraschung
Kann sein, dass Daniel Kehlmann nun Konkurrenz bekommt – vom deutschen Autor Christoph Poschenrieder mit seinem Roman «Die Welt ist im Kopf». Jedenfalls lässt aufmerken, wenn ein so erfolgsgerichteter Verlag wie Diogenes ein Debüt herausbringt, noch dazu über den vor 150 Jahren verstorbenen, spröden deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer (1788–1860).
War das nicht der bärbeissige Griesgram, der sich so verächtlich über die Frauen und die Liebe geäussert hat? Der die epochale Abhandlung «Die Welt als Wille und Vorstellung» verfasste, die irgendwo in der hinteren Reihe der nie zu Ende gelesenen Bücher verstaubt? Dabei war der Autor gerade mal 30 Jahre alt, als er dieses später so einflussreiche Werk schuf.
Diesen jungen Mann erweckt der 45-jährige Christoph Poschenrieder, seinerseits Doktor der Philosophie, aber auch Journalist und Dokumentarfilmer, zu anrührendem Leben. Dabei stützt er sich ebenso auf detailgenau recherchierte Fakten wie auf seine sinnenfreudige Vorstellungsgabe.

Ein Zeitbild
1818 reist der wohlhabende Kaufmannssohn Arthur Schopenhauer von Dresden nach Italien, erbost über die verspätete Publikation seines gewichtigen Buches, von dem er sich Anerkennung als Philosoph verspricht. In der Westentasche trägt er ein Empfehlungsschreiben des mit seiner Mutter befreundeten Dichterfürsten Goethe an den skandalumwitterten englischen Dichter Lord Byron. Dieser soll ihm in Venedig die Türen öffnen.
Auf der strapaziösen Kutschenfahrt über die Alpen wehrt sich der aufbrausende Schopenhauer vehement für ein misshandeltes Kutschenpferd und gerät damit als potenzieller Revolutionär ins Visier der Spitzel von Fürst Metternich: Es ist die Zeit nach dem Wiener Kongress, als der mächtige Minister der Habsburgermonarchie zusammen mit den andern Grossmächten die vor-napoleonische Ordnung brutal wiederherstellen will.

Ein Lesevergnügen
Trotzdem geniesst der junge Mann die Schönheit der Lagunenstadt, vor allem aber die Liebe einer Glasbläsergehilfin. Er lernt eine Gondel rudern und mischt sich in das Maskentreiben. Auf einen Besuch bei Lord Byron verzichtet er hochmütig. Doch als ihm seine Schwester vom drohenden Verlust des Familienvermögens berichtet, kehrt er schweren Herzens nach Deutschland zurück – in ein enges Leben als mässig erfolgreicher Gelehrter, der nur noch bitterböse Worte über «die Metaphysik der Geschlechterliebe» finden wird.
All das wird temporeich erzählt in locker aneinander gefügten Episoden. Landschaften und Städte erscheinen als bunter Bilderbogen, die zahlreichen Figuren sind einprägsame Charaktere, porträtiert mit ironischem Witz. Und die behutsame Angleichung der Sprache an den Stil des frühen 19.Jahrhunderts erlaubt eine nahtlose Einfügung von Originalzitaten Schopenhauers. So ahnt man etwas von dessen klugen Gedanken über die Suche nach dem Glück, ohne im Staub niesen zu müssen.

Marie-Louise Zimmermann
(Erschienen in der Berner Zeitung vom 6.5.2010)