Ideales Wandergebiet: Die Alp Piana di Vigezzo
Wie oft ist man schon unterwegs nach Locarno durchs italienische Val Vigezzo gefahren. Hat durchs Zugfenster die wildwüchsigen Kastanienwälder bewundert, die blühenden Heuwiesen und die gepflegten Dörfer mit den grossen Kirchen. Und dabei gedacht: Hier wäre gut wandern, bequemer als im steilen Centovalli jenseits der Schweizer Grenze. Ueberdies gibt es hier kulturell wie kulinarisch viel zu entdecken.
Domodossola ist mehr als ein Umsteigebahnhof: Der Samstagsmarkt in der Altstadt lockt mit regionalen Spezialitäten fürs Picknick . Den berühmten Kapellenweg hinauf zum Sacro Monte Calvario muss man aber auf ein andermal verschieben, zu lang ist die erste Marschetappe: erst entlang der stark befahrenen Autostrasse durch die Ebene des Toce, dann steil hinauf nach Trontano. Dieses Wegstück kann man sich ersparen dank der „Vigezzina“, dem parallel zur Wanderroute fahrenden Schmalspurbähnchen..
Im wilden Kastanienwald
In den Wein- und Gemüsegärten des hoch gelegenen Dorfs Trontano werkeln nur ein paar alte Männer in den Wein- und Gemüsegärten. Die Jungen arbeiten wohl alle im Tal unten, konnten sich deshalb die neuen Einfamilienhäuser leisten.
Der Maultierweg zu den restaurierten alten Mühlen ist markiert. Das hat Seltenheitswert: Bestenfalls gibt es sonst nur Wegweiser für Biker. Im verwilderten Kastanienwald mit den imposanten Baumriesen ist man völlig allein unterwegs – ein willkommenes Opfer für die Bremsen, die sich in den Lichtungen auf ihre erste Mahlzeit des Tages stürzen.
Während der Weiler Verigo im Sommer noch bewohnt wird, zerfallen weiter unten in Marone die schönen Steinhäuser und die Geländeterrassen verganden, nur die Plasticblumen auf dem Friedhof haben überlebt. Gut erhalten dank Autozugang ist dagegen auf der gegenüberliegenden Talseite die Häusergruppe von Mozzio. Man erreicht sie auf einem Kraxelpfad über Bondi oder nach einem Strassenkilometer auf einem vor dem Kleinkraftwerk beginnenden, sogar markierten Wanderweg. Steil sind beide Routen (Mozzio klingt wie motzen…).
Komfortabel wandert es sich anschliessend auf dem Natursträsschen nach Coimo, einem Gemisch aus alten und neuen Häusern samt einer willkommenen Gaststätte. Sogar eine Bushaltestelle gäbe es, doch die Abfahrtszeiten sind unlesbar, und auf Nachfrage erntet man nur Kopfschütteln. (Der später mit Mühe aufgetriebene Fahrplan lehrt, dass Busse nur zu Schulzeiten verkehren.) Zum Glück führt eine bequeme Velopiste über Sasseglio durch einen schönen Mischwald hinunter nach Druogno mit guten Restaurants und erschwinglichen Hotels.
Viel Kunst und Geschichte
Wer Freude hat an barocken Fresken, kommt auf die Rechnung in diesem „Tal der Künstler“: Ihr berühmtester Vertreter, Giuseppe Borgnis (1701-1761), hat die Kirche von Trontano mit der Drachentöterin Marta geschmückt, diejenige von Coimo mit dem Heiligen Ambrosius und die Kapelle von Sasseglio mit einem Abendmahl. Über vierhundert Figuren bevölkern seine grosse Kirchenkuppel in Santa Maria Maggiore, ein ganzes Engelsgeschwader die im nahen Craveggia. Und wie überall im Tal zieren auch dort Heiligenbilder manche Privathäuser.
Das herrschaftliche Städtchen am Sonnenhang verdankt seinen Reichtum den seit dem 17. Jahrhundert nach Paris ausgewanderten Familien, die als Ofenbauer zu Geld kamen und vom französischen König ein Handelsprivileg erhielten. Weit schlechter erging es vielen Kindern im Tal, die von ihren bitter armen Eltern als Kaminfeger ins Ausland verdingt wurden. Von ihnen berichtet das „Museo dei Spazzacamini“ in Santa Maria Maggiore.
Lohnende Städtchenbummel
Heute geht es dem Val Vigezzo gut, denn in der nahen Schweiz sind Grenzgänger (respektive Grenzautomobilisten!) als Arbeitskräfte hoch willkommen. Das sei Segen und Fluch zugleich, meint Benito Mazzi, Lokalhistoriker und pensionierter Chefredaktor der Talzeitung: Dank der guten Verdienstmöglichkeiten im nahen Ausland werde im Tal kaum investiert. Dabei hätte der Tourismus ein Facelifting nötig: Die meisten Hotels wirken ebenso betagt wie ihre Stammgäste. Die geniessen lieber auf einer Restaurantterrasse ihren Apero oder ein Gelato als zu marschieren, und auch die Biker scheinen die Velowege noch kaum entdeckt zu haben. So bleibt man als Wanderer ungestört.
Die zweite Etappe durch die liebliche Tallandschaft lässt genug Zeit zur Erkundung der kleinstädtisch wirkenden Ortschaften. Hübsch ist vor allem der verwinkelte alte Kern von Malesco mit dem wöchentlichen Kunsthandwerksmarkt und einem guten gemachten kleinen Museum zur Geologie und Archäologie der Gegend. Die Wallfahrtskirche von Re dagegen ist mehr gross als schön
Dafür lohnt sich der Abstecher nach Piana di Vigezzo hoch über Santa Maria Maggiore. Von der Bergstation der Kabinenbahn wandert man mit weitem Talblick zur schönen Alpe Colmo voller Blumen und Schmetterlinge. Ihre weit verstreuten Steinhütten, „Baita“ genannt, wurden liebevoll restauriert. Gut erhalten sind auch die „Schalensteine“ neben der Kapelle San Rocco, Zeugen eines prähistorischen Kultes.
Viel anspruchsvoller als dieser Rundweg sind die meisten anderen Routen im italienischen Nationalpark Val Grande, an dessen Nordrand das Val Vigezzo liegt: eine spektakuläre Bergwildnis für abenteuerlustige Könner.
An den Steilhang geklebt: der Weiler Mozzio (Fotos: mlz)
Infos und Tipps
Wandersaison: Ganzjährig. Auch im Sommer (viel Waldschatten) und Winter (wenn schneearm).
Anfahrt: Zug nach Domodossola/Trontano und ab Re.
Route: Trontano-Marone:1.30h-Coimo:1.30h-Druogno: 0.45h-Sta.Maria: 0.45-Malesco:0.45h-Re: 0.50. Schlaufe über Craveggia: 1.30h. Rundwege Piana di Vigezzo: 1-3 Std. je nach Route.
Führer: Bernhard Thelesklaf: Nationalpark Val Grande (Rotpunktverlag)
Karten: LK 1:50’000 Bl.285 Domodossola, Bl.275 Valle Antigorio. Besser: Wanderkarte 1:25’000 (Itinerari senza frontiera)
Führer: Bernhard Thelesklaf: Nationalpark Val Grande (Rotpunktverlag)
Unterkunft: empfehlenswert Albergo Scheggia, B&B Val Vigezzo in Santa Maria Maggiore/Craveggia
Marie-Louise Zimmermann
(erschienen im Magazin wandern-randonner 2015/3)