GIPFELGESPRÄCH MIT FRANZ HOHLER

«ICH WANDERE, SOLANGE MICH DIE FÜSSE TRAGEN»


Franz Hohler im Gespräch mit der Autorin auf der Burgruine Frohburg. (Bild: Rémy Kappeler)

Franz Hohler, den Weg zur Frohburg mussten Sie offensichtlich nicht suchen.  
Nein, ich bin in Olten aufgewachsen und noch immer ein wenig hier daheim. Gerade eben habe ich zufällig eine über 90-jährige ehemalige Musikerkollegin aus dem Oltner Stadtorchester getroffen. Hinauf zur Frohburg bin ich viele Male gegangen, allerdings nicht wie jetzt auf dem Strässchen durchs Erlimoos, sondern über den recht ausgesetzten Geissgrat. Ich habe gerne wilde Pfade, obwohl ich nicht schwindelfrei bin.

Verbinden Sie frühe Erinnerungen mit dem Ort?
Für mich war die Ruine ein Lieblingsziel unserer häuigen Familienwanderungen. Burgen und Schlösser faszinierten mich als Kind, ihre Vergangenheit und Vergänglichkeit: Auf der Frohburg lebte ein bedeutendes Adelsgeschlecht, das zum Beispiel die Stadt Olten gründete – und jetzt ist von ihrer Macht nur noch ein wenig Gemäuer übrig. Mein Vater wusste als Lehrer viel darüber zu erzählen, schrieb auch ein Festspiel zur Restaurierung der Burgreste.

Demnach gehörten Sie nicht zu den Kindern, die Familienwanderungen hassen?
Nein, ich bin gerne mitgegangen und habe dabei früh gelernt, mich zurechtzuinden. So liessen mich meine Eltern bald allein losziehen, zusammen mit meinem Bruder oder Freunden, einmal sogar auf eine mehrtägige Tour durch den Jura. Ich habe kürzlich ein Heft wiedergefunden mit präzisen Wandervorschlägen in der Gegend, das ich mit etwa 13 als Weihnachtsgeschenk für meine Eltern schrieb und zeichnete.

Konnten Sie diese positiven Erfahrungen ihren eigenen beiden Buben weitergeben?
Im grossen Ganzen sicher, auch wenn sie mir die berüchtigte Frage «Wie wiit gohts no?» nicht immer ersparten. Dann köderte ich sie mit Geschichten: Von Tschipo habe ich meinem älteren Sohn erzählt, bevor daraus ein Buch wurde. Für ihre guten Erfahrungen spricht, dass beide immer noch gelegentlich Bergtouren mit mir machen. Ich gehe gerne in die Alpen, vor allem ins Bündner Hochtal Avers, aber auch ins Engadin oder ins Berner Oberland. Dort habe ich einen guten Freund, den Bergführer Adolf Schlunegger, der mich sicher auf Drei- und Viertausender geleitet.

Mit Ihren 73 Jahren immer noch?
Natürlich klettere ich nicht wie ein Steinbock! Meine Knie- und Hüftgelenke spüren das Alter. Bis jetzt musste ich zwar noch keines ersetzen, aber abwärts bin ich froh um Stöcke. Und ich habe keinen sturen Ehrgeiz, notfalls umzukehren, ist für mich keine Schande, sondern eine lankierende Massnahme zur Lebenserwartung. Natürlich werde ich nicht alle erträumten Gipfel mehr besteigen können. Aber ich bin zufrieden, wenn es mir gelingt, das Alter mit einer gewissen Nonchalance hinter mich zu bringen. Wandern werde ich, solange mich die Füsse tragen. Es ist die menschengerechteste Art der Fortbewegung: Sie lässt einem genug Zeit, die Welt wirklich wahrzunehmen, genau hinzusehen, zu hören, zu riechen, zu fühlen. Ich freue mich, wenn ich einen Vogelpiff im Wald oder eine Blume am Wegrand identiizieren kann.

Bedeutet Wandern auch Zeit zum Nachdenken über Texte, an denen Sie gerade arbeiten?
Nein, just eben nicht! Ich versuche im Gegenteil, im gleichmässigen Schritt mein Gehirn herunterzufahren, um Kontakt aufzunehmen mit einem Teil meines Selbst jenseits des Denkens. Wenn das gelingt, entsteht eine stille Leere, die sich mit Neuem füllen kann. Beim Gehen inde ich zu mir selber.

Sogar wenn der Weg durch eine hässliche Agglomeration führt?
Auch das ist interessant. Wir stellen uns Heimat immer als Postkartenidylle vor, so wie hier oben: grüne Jurahügel und in der Ferne die weisse Alpenkette, Kuhglockengeläut und Greifvögel am Wolkenhimmel. Aber was du jeden Tag siehst, wird zu deiner Heimat, egal wie unattraktiv es scheint. Hässlichkeit mobilisiert die Gegenkraft, das Schöne zu sehen: etwa einen blühenden Löwenzahn im Riss einer Betonmauer. Deshalb habe ich in meinen Wanderbüchern bewusst nicht nur spektakuläre Bergtouren beschrieben, sondern auch ganz banale Spaziergänge in meiner städtischen Umgebung. Mich interessieren alle Manifestationen des Lebens, und ich versuche, ihnen möglichst vorurteilslos zu begegnen: Klar erschrecke ich, wenn in der Stadt Zürich die Kronenwiese überbaut wird – aber wenn ich dann ein Zeitungsbild sehe von 6000 Menschen, die sich dort um eine erschwingliche Wohnung bewerben, verstehe ich die Notwendigkeit. Wir sind eben sehr viele …

Sie sind zwar im Pensionsalter, aber scheinen weit entfernt vom Ruhestand?
Ja, ich bin immer noch an der Arbeit und froh darüber. Eben habe ich als Herausgeber 113 «Einseitige Geschichten» verschiedenster Autoren gesammelt, jede wirklich nur eine Seite kurz. Und ich bin unterwegs mit einer als Spaziergang durch mein Gesamtwerk konzipierten Lesung. Überdies sitze ich an einem Theaterstück, und mit Glück gibt es noch einen nächsten Roman. Vor allem aber: Wenn ich meinem Vater nachschlage, der mit seinen 100 Jahren noch immer mit nur mit einem Stock herumspaziert, kann ich noch auf viele Wanderungen hoffen.

Interview: Marie-Louise Zimmermann
(erschienen in «wandern.ch», Nr.4/2016, Magazin der Schweizer Wanderwege)

 

Franz Hohler
1943 geboren, in Olten aufgewachsen und schon lange in Zürich-Oerlikon zu Hause, gehört Franz Hohler zu den vielseitigsten und produktiven Kulturschaffenden der Schweiz. Bekannt wurde er zuerst mit seinen witzig musikalischen Kabarettprogrammen, dann mit seinen oft politisch pointierten Beiträgen für Radio, TV, Bühne und Film. Als Schriftsteller fabuliert er überraschend doppelbödige Geschichten für Erwachsene wie für Kinder, von Kurztexten, Gedichten, Erzählungen bis zu Romanen. Rund 200 Titel zählt die Liste seiner vielsprachig übersetzten Werke. Drei davon zeigen ihn als passionierten Wanderer: «52 Wanderungen» (2005), «Spaziergänge» (2012/beide bei Luchterhand) und «Immer höher» (2014/AS Verlag).
(Bild: Christian Altorfer)

Franz Hohler liest auf der Frohburg aus seinem Buch:
www.wandern.ch/franzhohler