SÜDTIROL

Auf Waalwegen durch den sonnigen Vinschgau


Leicht wandert sich’s den alten Bewässerungskanälen entlang.

Das klimatisch bevorzugte grenznahe Tal ist ideal für mehrtägige Familienwanderungen, vor allem in der Vor- und Nachsaison: Die Wege sind nicht schwierig und dank dichtem OeV jederzeit abkürzbar, die kulturellen wie kulinarischen Höhepunkte nahe beieinander.

Der Vorschlag, nach Italien zu wandern, begeistert sogar die sonst eher marschfaule Jungmannschaft. Und das Versprechen bequemer Tagesetappen mit kulturellen oder kulinarischen Höhepunkten lässt auch die Grosseltern mitkommen: Für Sportliche wie für Geniesser gibt es im Vinschgau mehrtägige Wanderrouten, die sich dank Bahn und Bussen spontan anpassen lassen.

Durch den Biosphärenpark
Man könnte im Postauto von Zernez im Unterengadin direkt nach Mals im Obervinschgau fahren. Doch wir wollen das Tal erwandern und steigen deshalb auf dem Ofenpass aus. In der Nachmittagssonne geht es durch Weiden und Lärchenwald ins hoch gelegene Dörfchen Lü. (Noch schöner, aber anstrengender und einen Tag länger wäre es ab Scuol: Am Reisetag bis S-charl, dann zum Arvenwald Tamangur und über den Pass da Costainas.)
Nach einer Nacht im blumengeschmückten Gasthaus von Lü sind wir wieder auf dem Panoramaweg über dem unverdorbenen grünen Münstertal, seit 2011 als regionaler Naturpark anerkannt.
Ein Unesco-Weltkulturerbe ist das Kloster Son Jon in Müstair, im 8. Jahrhundert gegründet von Karl dem Grossen, dessen Abbild im Kirchenschiff steht. Aus seiner Zeit stammen die erstaunlich gut erhaltenen Fresken, auf denen Salome vor Johannes dem Täufer tanzt und dann seinen Kopf auf einem Teller davonträgt. Interessantes erfährt man im angrenzenden Museum und bei Führungen.
Passend könnte man über die grüne Grenze zum andern Benediktinerstift in Marienberg weiterwandern; doch das ist uns zu weit. Wir verlassen deshalb den Stundenweg mit seinen Meditationstafeln und steigen ab auf die Waalwege nach Glurns. Immer wieder werden wir in den kommenden Tagen diesen offenen Wasserleitungen entlang gehen.

Alte Wasserwosser
Wie im Wallis die Bissen, sind die Waale charakteristisch für den Vinschgau, der im Windschatten hoher Berge mit rund 300 jährlichen Sonnentagen nicht mehr Niederschlag erhält als Sizilien. Die meisten Wassergräben wurden zwar durch pflegeleichte Rohre ersetzt; doch gut 150 Kilometer hat man für die Wanderer erhalten und sogar neu vernetzt.
Glurns ist ein liebevoll restauriertes Bilderbuchstädtchen, nur leider geplagt vom Durchgangsverkehr. Die Stadtmauer verweist auf die kriegerische Vergangenheit, als sich der Bischof von Chur mit den Habsburgern um das wichtige Durchgangsland stritt. Und in der Umgebung liegen Bunker aus dem 1. Weltkrieg, in dem Oesterreich nach fünfhundertjähriger Herrschaft das Südtirol an Italien verlor. Noch heute spricht man im Vinschgau einen kratzigen deutschen Dialekt und hält gegen die Italianisierung fest an alten Ortsnamen.
Wir möchten den verpassten Besuch in Marienberg nachholen, um dem Mönchschoral in der vor über tausend Jahren ausgemalten Krypta zu lauschen und dann die Sgrafitti im benachbarten Dorf Burgeis bewundern. Ueberdies gäbe es unterwegs im hübschen Städtchen Mals noch mehr romanische Kirchenfresken.
Doch die Kinder murren gegen so viel Kunstgenuss. Einverstanden sind sie dagegen, im Bus die eher langweilige Talstrecke nach Schluderns zurückzulegen, um im dortigen Museum etwas zu lernen über die „Wasserwosser“, das alte Bewässerungssystem. Anschliessend nehmen sie den schweisstreibenden Anstieg zur Churburg in Kauf; doch leider finden die beliebten Ritterspiele nur im Sommer statt.

Armut und Reichtum
Nun sind am Südhang, auf dem wir bis zu unserem Endziel wandern wollen. In den heissen Sommermonaten müsste man wohl auf die Nordseite ausweichen oder den anspruchsvollen Höhenweg wagen. Doch in der Frühlingssonne geniessen wir den weiten Blick bis an die verschneiten Gipfel des Ortlermassivs. Weiss schimmern im Tal der Etsch unter uns auch die blühenden Apfelbäume in ihren exakten Spalierreihen.
Der Obstanbau wird hier eben streng wirtschaftlich im grossen Stil betrieben. Neben einem sanften Tourismus ist er verantwortlich für den heutigen Wohlstand einer Landschaft, die Jahrhunderte lang mausarm war. Von hier wanderten noch im 19. Jahr hungernde Kinder bis nach Süddeutschland, um sich dort zu verdingen.
Das kann man sich heute kaum mehr vorstellen, denn nach dem Autonomiestatut von 1972 hat sich das Südtirol zur zweitreichsten Provinz Italiens entwickelt. 90% der Steuergelder fliessen hierhin zurück und wurden geschickt investiert. Damit hat sich die Atmosphäre entspannt: Man ist selbstverständlich zweisprachig und sonnt sich im Neid des übrigen Italien.
Für den Vinschgau wurde die einstige Armut zum Segen: Es fehlte das Geld, um die romanischen Gotteshäuser barock umzugestalten. Vor allem aber reichte die Betonwelle der Nachkriegszeit nicht bis hierher, und seither haben die Architekten dazu gelernt.

Zweisprachig schlemmen
Davon können wir uns in Schlanders überzeugen, das wir in zwei Tagen nach einer Uebernachtung in Tanas erreichen. Für die vorher schlapp machenden Kinder gab es zum Glück die Vinschgerbahn – gerettet von der Provinzregierung, als sie der italienische Staat stilllegen wollte. Nach einem Ruhetag lassen sie sich auch die jüngsten Wanderer wieder motivieren für die Fortsetzung zum Schloss Kastelbell.
Und Alte wie Junge begeistern sich für die Burg Juval, die der berühmte Alpinist Reinhold Messner mit Kunstschätzen aus dem Himalaya und Masken aus aller Welt ausgestattet hat. Dazu gehört eine Gaststätte, wo man wählen kann zwischen Schupfnudeln oder Tortellini, Rauchspeck oder Parmaschinken, Alpkäse oder Mascarpone, Apfelstrudel oder Panna Cotta. Ueberall im Südtirol verbinden sich zwei Esskulturen zu einer deftigen Schlemmerei, begleitet von knusprigem Schüttelbrot und begossen mit dem süffigen Wein der Gegend.
Dann muss doch noch mal Kultur sein: Bei Naturns gibt es in einem Kirchlein mitten in den Weinbergen die ältesten Fresken des deutschsprachigen Raums. Da sieht man den Heiligen Proculus, Patron der Haustiere, auf einer Schaukel über eine Stadtmauer flüchten, und ein Dutzend Kühe stehen Spalier. Das finden sogar die Kinder cool.


Der bunte Markt in Glurns lockt Touristenscharen an. (Bilder: zvg)

Tipps und Info
Lage: In der autonomen Provinz Südtirol zwischen Reschenpass und Naturns.
OeV: Postauto Zernez – Mals. Südtiroler Bahn Mals – Meran –Bozen. Regionalbusse.
Wanderetappen: Ofenpass – Lü (oder Scuol – S-charl – Lü) – Müstair – Glurns – Tanas – (Zusatz: über Mals – Marienberg nach Schluderns) – Kastelbell – Naturns.
Radweg: Veloroute Reschenpass- Meran – Bozen – Verona.
Unterkunft: Reiche Auswahl in allen Preisklassen vom Wellnesshotel bis zum Bergbauernhof.
Karten: CH-LK 1:50’000 Bl.259, Kompass-Wanderkarte Bl.52.
Führer: Ursula Bauer/Jürg Frischknecht: Schüttelbrot und Wasserwosser (Rotpunkt Verlag) mit genauen Routenbeschreibungen, viel kulturhistorischer und kulinarischer Information, schönen Fotos.
Information: Diverse Webseiten. Zu Kirchenkunst: www.stiegenzumhimmel.it

Marie-Louise Zimmermann
(Erschienen in der Zeitschrift „wandern“ der Berner Wanderwege, April 2012)